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Forschungen im kolonialen Raum werden in der Regel einem europäischen Forscher zugeschrieben (sehr selten einer europäischen Forscherin), obschon viele Forschungen durch andere, bis heute unbekannt gebliebene Personen durchgeführt wurden. Andere, ebenfalls anonyme Männer und Frauen waren unerlässlich für die Forschungen in den Kolonien, weil sie lokales Expertenwissen zur Verfügung stellten, die Logistik der Expeditionen ermöglichten, übersetzten oder bei der Konservierung von Naturalia und Zoologica oder bei dem Transport der Ethnographica halfen. Auch die Göttinger Forscher hätten ohne das Wissen und den Einsatz der anonymen Intermediaries wohl kaum wissenschaftliche „Erfolge“ in dem Ausmaß verzeichnen können.

Die Expeditionen, die der Göttinger Privatdozent für Augenheilkunde Alfred Leber 1913/14 zusammen mit dem Mediziner Ludwig Külz in „Deutsch-Neuguinea“ unternahm, wurden zum Beispiel von der Krankenschwester Gertrud Arnthal, die im Frühjahr 1914 verstarb, begleitet. Sie war wahrscheinlich die Einzige, die überhaupt Zugang zu der weiblichen Bevölkerung erhielt und so maßgeblich zu den Forschungsergebnissen beitrug. Überdies wurde die Expedition erst durch die Mithilfe einer ganzen Reihe von Einheimischen ermöglicht: Über ein Dutzend Polizeisoldaten, die aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert worden waren, sorgten für den Schutz der europäischen Forscher und der Krankenschwester. Ihr Untersuchungsobjekt war die einheimische Bevölkerung, nicht wenige von ihnen arbeiteten als Plantagenarbeiter. Im Auftrag der „kolonialen Geburtensteigerung“ betrieben die Mediziner darüber hinaus vor allem Forschung an den einheimischen Frauen. Sie mussten nicht nur penible Messungen und körperliche Untersuchungen, sondern auch langwierige, intime Befragungen über sich ergehen lassen. Die Daten, die durch die Vermessungen ihres Körpers und durch Befragungen gewonnen wurden, bilden die Basis für die wissenschaftlichen Publikationen der beiden Ärzte. Wer die Polizeisoldaten waren und wer was zu den medizinischen Untersuchungen beitrug, wissen wir nicht. Auch die Namen der untersuchten Personen wurden nirgends aufgezeichnet. Welchen Beitrag Gertrud Arnthal leistete, ist auch nicht überliefert.

Für die Expeditionen, die der Göttinger Botaniker Albert Peter in „Deutsch-Ostafrika“ unternahm, waren zahlreiche Träger vonnöten, die Mess-und Aufnahmegeräte sowie wie den Proviant und die Zelte trugen. Auf seinen botanischen Exkursionen war er auf die Expertise der lokalen Bevölkerung angewiesen, die ihm die Namen der Pflanzen mitteilte und wo diese vorkommen. Auch heuerte Peter wie andere Forscher einheimische SammlerInnen an, um möglichst viele Naturalia zu erhalten. Dann lieferten manche Einheimische wichtige Informationen über das Vorkommen und vor allem die Nutzung der Pflanzen. Um die Informationen zu verstehen, bedurfte es wiederum DolmetscherInnen, die nicht selten MissionsschülerInnen waren. Die Namen der Träger, SammlerInnen, lokalen ExpertInnen wie DolmetscherInnen sind nicht bekannt.

Woher der Göttinger Theologe Carl Mirbt seine Ethnographica hatte, ist bis heute nicht restlos geklärt. Vieles spricht dafür, dass er seine Verbindungen in die protestantischen Missionsgesellschaften nutzte, um an die Objekte zu kommen. Die Missionare, die auf den Missionsstationen in den Kolonien lebten, beauftragten wiederum ihre SchülerInnen, wertvolle Ethnographica zu besorgen. Zuweilen wurden solche von den Missionaren auch gewaltsam entwendet: So stahl man sogenannte Fetische und verbrannte sie, um die vermeintliche Überlegenheit des christlichen Glaubens unter Beweis zu stellen. Anderes verschiffte man mithilfe europäischer Schifffahrtslinien nach Europa, wo diese Objekte zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurden. Die Mittelsmänner und -frauen, die hierbei halfen oder auch den Missionaren die Bedeutung der Objekte erzählten, blieben ungenannt.

Als Otto Tetens im Auftrag der Göttinger Akademie auf Samoa ein Observatorium aufbauen sollte, war er auf die Hilfe der samoanischen ArbeiterInnen angewiesen. Ohne sie hätte keine einzige Messung vorgenommen werden können. Und als er später dazu überging, sich als Hobbyethnograph und –fotograph zu betätigen, lebte er von den samoanischen Frauen, die sich von ihm gleich Schauspielerinnen zu Szenen arrangieren ließen. So konnte er seine Vorstellungen davon, wie das Leben ursprünglich auf Samoa ausgesehen hat, auf Fotographien festhalten. Wer sie waren und wie sie diese Arrangements erlebten, wissen wir ebenfalls nicht.

 

Von Rebekka Habermas