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Auf dem Göttinger Stadtfriedhof steht ein Denkmal für die im Lager Ebertal verstorbenen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs. Unter den dort Begrabenen befindet sich (kurioserweise als "afrik[anisch] ind[ischer] Soldat" bezeichnet) der aus der heutigen pakistanischen Provinz Belutschistan stammende Schahdad Khan. Er wurde vermutlich 1879 in Soran, einer Stadt in der damaligen Kolonie "Britisch-Indien", geboren und verstarb 1918 in Göttingen. Khan war nicht – wie die meisten anderen Gefangenen – aufgrund der unmittelbaren Kriegsereignisse in die Stadt gelangt. Ursache hierfür war ein seit langem gehegtes Forschungsinteresse des Orientalisten Friedrich Carl Andreas.

 

Sprachforschungen in deutschen Kriegsgefangenenlagern

Friedrich Carl Andreas (1846–1930) war seit 1903 Universitätsprofessor in Göttingen. Der sprachbegabte und vielseitig interessierte Wissenschaftler hatte bereits zu Studienzeiten ein nachhaltiges Interesse an (alt-)iranischen Sprachen entwickelt, das über die Jahre nie abriss. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Andreas 68 Jahre alt, gesundheitlich stark angeschlagen und beinahe mittellos. Dass der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen ihn für sein Projekt anheuerte, stellte eine glückliche Entwicklung für Andreas dar: Doegen unternahm sprachwissenschaftliche Forschungen an jenen Kriegsgefangenen, die für Frankreich oder England kämpften und in den Kolonialgebieten rekrutiert worden waren. Man hatte sie im unweit von Berlin gelegenen Gefangenenlager Wünsdorf zusammengezogen. Als Teil der Königlich Preußischen Phonographischen Kommission (KPK), die die Arbeiten unter Federführung Doegens durchführte, konnte er seinen Forschungsinteressen unter ganz neuen Bedingungen nachgehen. In Wünsdorf müssen sich Andreas und Khan dann zum ersten Mal begegnet sein. Ersterer war davon besonders angetan – immerhin sprach Khan neben Belutschi mehrere andere Sprachen, zu denen europäische WissenschaftlerInnen bislang kaum Zugang gehabt hatten.[1] Er sorgte für die Verlegung Khans in das Göttinger Kriegsgefangenenlager, um die begonnenen Arbeiten fortsetzen zu können. So gelangte dieser im April 1917 nach Göttingen und war von nun an im Lager Ebertal interniert. Andreas betonte regelmäßig, dass er "ununterbrochen, Tag für Tag, oft auch am Sonntag"[2] Forschungssitzungen mit ihm abhalte.

Den Forschungen im Lager, in deren Verlauf Schahdad Khan sein Leben verlor, maß Friedrich Carl Andreas in seiner wissenschaftlichen Laufbahn besondere Bedeutung bei. Die Ergebnisse dieser Arbeiten wurden jedoch nie veröffentlicht. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre der Universitätsprofessor nie von materiellen Anreizen oder dem Wunsch nach der Anerkennung der Forschungsgemeinschaft, sondern schlicht von einem intrinsisch motivierten Wissensdurst geleitet worden zu sein. Khan wiederum scheint in diesem Kontext die Rolle einer zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressource eingenommen zu haben; ein kleiner Baustein in der großen Maschinerie des wissenschaftlichen Fortschritts – soweit, so harmlos?

Zum ersten Mal musste Andreas nicht mehr tief in die eigene Tasche greifen und in weit entfernte Gebiete reisen, um seine linguistischen Spezialgebiete weiter ergründen zu können. Die Umstände des Krieges hatten für ihn sehr vorteilhafte Forschungsbedingungen geschaffen, und er machte sie sich gezielt zunutze. Er profitierte in erheblichem Maße von der Internierung von Soldaten aus außereuropäischen, kolonisierten Gebieten. Die Zwangssituation, in der sich die Gefangenen befanden, waren die entscheidende Voraussetzung für seine Forschungstätigkeit. Hierdurch beteiligte er sich an der Produktion von Wissen über das Außereuropäische – und in diesem besonderen Fall über "den Orient" –, die durch verschiedene Formen von Gewalt geprägt und untrennbar mit Macht verknüpft war. Ein Kennzeichen dieses "colonial knowledge" ist, dass Menschen aus dem Außereuropäischen strukturell unsichtbar gemacht werden – und es ist umso wirkmächtiger, weil dieses Unsichtbarmachen so oft unbemerkt bleibt. 

 

Wer oder Was kann heute überhaupt Auskunft geben?

Dies zeigt sich beispielsweise am Quellenkorpus, anhand dessen man die Umstände von Khans Aufenthalten in deutschen Kriegsgefangenenlagern näher untersuchen kann. Von ihm selbst liegen keine schriftlichen Quellen vor. Was man über ihn und von ihm in Erfahrung bringen kann, steckt in Quellen, die von EuropäerInnen geschaffen wurden. Diese sollten aber lediglich Informationen über ihn zusammenzutragen, die wissenschaftlich nutzbar gemacht werden könnten. Die Bedingungen, unter denen er sein Wissen und seine Stimme dafür hergab, dass Andreas seine Forschungsinteressen in der geschehenen Form verfolgen konnte, finden dort keine explizite Beachtung. Die Herausforderung liegt also darin, die in den zur Verfügung stehenden Quellen enthaltenen Informationen gegen den Strich zu lesen und neu zu verorten. Nur so erscheint es möglich, zumindest ansatzweise auch eine Vorstellung von Khans Perspektive zu erlangen.

Schahdad Khan stammte aus dem Fürstenstaat Kalat auf dem Gebiet der heutigen pakistanischen Provinz Belutschistan. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte Großbritannien die gesamte Region in brutalen Auseinandersetzungen unter seine Herrschaft gebracht und zu einem Teil „Britisch-Indiens“ gemacht. Neben seiner Muttersprache sprach (und schrieb) er Urdu, außerdem Paschtu, Pandschabi, Sindhi, Brahma, Brahui und etwas Persisch – seine Sprachkenntnisse lassen auf eine große Mobilität schließen. In Wünsdorf wurde über ihn festgehalten: "Landbesitzer, soll ein wohlhabender Mann sein".[3] Vom 21. Lebensjahr an diente er als Soldat: in Karatschi, in Tschaman [Chaman], in Hongkong. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war ein Militärdienst unter britischem Kommando keine Seltenheit; zu diesem Zeitpunkt hatte Südasien "schon jahrzehntelang als 'englische Kaserne im Orient' […] fungiert, nämlich als Reservoir für billige militärische Arbeitskraft".[4] Einsätze in weiter entfernten Regionen "Britisch-Indiens" kamen häufiger vor – und schließlich auch im Ersten Weltkrieg.

Zwischen August 1914 und Oktober 1918 brachten die Briten mehr als 940.000 Südasiaten zur Unterstützung ihrer Kampfhandlungen nach Europa, Schahdad Khan war einer von ihnen. Er kam an der Westfront zum Einsatz und wurde am 20. Dezember 1914 in der Nähe des nordfranzösischen La Bassée gefangengenommen. Schließlich wurde Khan im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf nahe Berlin interniert. Dort war er nicht nur Ziel planmäßiger propagandistischer Bemühungen seitens verschiedener Regierungsstellen, sondern ebenso dem Forschungsdrang der KPK ausgesetzt.

 

Neben Sprachwissenschaftlern kamen auch Musikwissenschaftler und Anthropologen ins Wünsdorfer Gefangenenlager. Letztere nahmen beispielsweise Vermessungen an den Gefangenen vor und leisteten so einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur zeitgenössisch immer größer werdenden "Rassenforschung". Allem Anschein nach war auch Schahdad Khan Teil solcher anthropometrischen Untersuchungen: Der zu dieser Zeit sehr renommierte Arzt und Anthropologe Felix von Luschan gab 1917 den Band "Kriegsgefangene" heraus, der neben einer "Einführung in die Grundfragen der Anthropologie" auch 100 Steinzeichnungen verschiedener Gefangener enthielt.[Abb.1]

 

Die Teilnahme an den Forschungsarbeiten der Kommission, die hauptsächlich aus der Erstellung von Lautaufnahmen bestand, kann man kaum als freiwillig bezeichnen. Wahrscheinlich erscheint, dass eine Mischung aus – mehr oder weniger – subtilem Druck, verschiedenen Zugeständnissen und Hafterleichterungen durch Forscher und Lagerleitung sowie die generelle Zwangslage der internierten Soldaten diese dazu bewegte, die Aufnahmen zu machen.

Zwischen April und Mai 1917 wurde Khan dann auf Betreiben Andreas' zusammen mit vier paschtunischen Gefangenen in das Göttinger Kriegsgefangenenlager Ebertal verlegt. Dies diente Andreas' persönlichen und wissenschaftlichen Interessen; zur gleichen Zeit wurden die meisten anderen südasiatischen Kriegsgefangenen aufgrund zahlreicher Erkrankungen und Todesfälle infolge der unvorteilhaften klimatischen Bedingungen im Kaiserreich von Wünsdorf nach Rumänien verlegt. Die fünf Gefangenen aus dem Nahen Osten waren (und wurden) im Lager Ebertal weitestgehend isoliert, an ihrer generellen Zwangslage hatte sich nichts geändert. Es fanden erneut sprachwissenschaftliche Sitzungen statt. Diese bestanden überwiegend daraus, dass Khan Geschichten erzählte, Lieder sang oder Auskunft über bestimmte Wortfelder gab. Die Verlegung hatte außerdem nichts an den gesundheitlichen Gefahren geändert, die für Khan in Mitteleuropa bestanden. Rund ein Jahr nach seiner Ankunft in Göttingen erkrankte er an Tuberkulose und starb "nach mehr als sechsmonatlichem Krankenlager".[5]

 

P.K. 815: Eine andere Art der Quelle…

Auch wenn Schahdad Khan keine eigenen Aufzeichnungen hinterließ, gibt es neben den schriftlichen Quellen ein Dokument, welches von ihm selbst stammt. Am 31. März 1917 war im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf die "Lautliche Aufnahme Nr. P.K. 815" entstanden. Um 9:45 Uhr begann Khan, ein Lied in belutschischer Sprache in den akustischen Trichter eines Phonographen zu singen, das vermittels dieser Apparatur auf eine Schellackplatte aufgezeichnet wurde. Die Aufnahme ist 2:53 Minuten lang und trägt den Titel "'Lied' Balutschi". Die Leitung der Aufnahmesituation hatte der Orientalist Josef Horovitz inne, der, ebenso wie Andreas, der Arbeitsgruppe "Indische und Mongolische Sprachen" um den Berliner Orientalisten und Indologen Heinrich Lüders angehörte. Das belutschische Lied fiel in die Kategorie der (Indo-)Iranischen Sprachen. Zu jeder Tonaufnahme wurde ein "Personal-Bogen" mit Angaben über die Person, deren Stimme aufgezeichnet wurde, ausgefüllt. Zum Tondokument P.K. 815 sind außerdem ein handschriftlich angefertigter "Sprachtext" sowie eine bruchstückhafte deutsche Übersetzung erhalten. Die Aufnahmen, die von der KPK in deutschen Kriegsgefangenenlagern angefertigt wurden, sind heute im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin archiviert.

Khan hatte bereits im Jahr zuvor eine Aufnahme eingesprochen. Zu dieser Zeit hatte sich auch Andreas zu Forschungszwecken im "Halbmondlager" aufgehalten. An diesem 31. März sprach er außerdem noch eine dreiteilige Erzählung ein. Der Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis und einer Einordnung des Tondokuments P.K. 815 ist es, sich Khans Lage zu vergegenwärtigen: Zu diesem Zeitpunkt war er als einziger Belutsche seit mindestens einem Jahr im Wünsdorfer Lager interniert und hatte dieses in der Zwischenzeit mit großer Wahrscheinlichkeit nie verlassen können. Sein Gesundheitszustand scheint nicht besonders gut gewesen zu sein, und nichtsdestotrotz fanden regelmäßig Forschungssitzungen statt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme dürfte sein psychischer wie physischer Zustand von verschiedensten Fremdheits-, Kriegs- und Lagererfahrungen geprägt gewesen sein.

 

Tondokument P.K. 815 [6]

 

Das von Khan eingesungene Lied handelt von einem gewissen Malik Mīrān. Dieser hatte, wie andere Belutschen auch, sein Zuhause verlassen, und eine Taube bringt den Zurückgebliebenen nun die Briefe der Fortgegangenen aus der Gegend von Lahore. Ein Freund des "gut gekleideten" Mīrān schickt eine Nachricht an dessen Geliebte, die beim Eintreffen der Taube mit anderen Frauen in einem Diwan versammelt sitzt. Die durch die Taube überbrachte Nachricht bringt sie dazu, rotes Blut zu weinen. Am nächsten Tag parfümiert sie die Taube, damit ihr Duft ihren Geliebten jederzeit erreiche, und lässt sie wieder fliegen. Das Stück endet mit einer Liebesbeteuerung der Geliebten.[7]

Das Verlassen der (belutschischen) Heimat stellt einen zentralen Aspekt in dem von Khan gesungenen Lied dar – wobei man nicht erfährt, wo sich diese Heimat genau befindet. Die erwähnte Gegend um Lahore hingegen lässt sich lokalisieren. Sie liegt im Punjab und war im 19. Jahrhundert Mittelpunkt von über Jahrzehnte hinweg andauernden, militärisch ausgetragenen Konflikten zwischen lokaler Bevölkerung und britischen Kolonialtruppen, die ihr Einflussgebiet aus dem Osten kommend erweitern wollten. Die Region wies daher eine hohe Dichte an – britischen wie einheimischen – militärischen Strukturen auf. In dieser Region rekrutierte die Kolonialregierung zudem gezielt Soldaten für ihre Armee. Malik Mīrān wird als "gut gekleidet" beschrieben: Neben einer Aussage über seinen sozioökonomischen Status kann dieser Hinweis auch auf eine konkrete soziale Stellung deuten, die sich in seiner Kleidung äußert – beispielsweise einer Uniform. Die Verarbeitung einer (militärischen) kolonialen Erfahrung aus außereuropäischer Perspektive könnte also ein mögliches Anliegen dieses Liedes darstellen. Hierzu zählen auch deren Auswirkungen auf Angehörige und das zurückgelassene soziale Umfeld, die Themen wie Trauer, Schmerz und Sehnsucht miteinschließen.

Unbestreitbar stellt eine Verortung von Khans Lied in einem kolonialen Kontext nur eine von mehreren Interpretationsmöglichkeiten dar. Augenfällig bleiben jedoch die Parallelen zu seiner eigenen Biographie, und so sollte noch viel mehr als der Entstehungskontext des Liedes die Tatsache Aufmerksamkeit erregen, dass er genau dieses Lied für die phonographische Aufnahme auswählte. Wenn man die Möglichkeit ausklammert, dass er schlicht nur ein einziges Lied auswendig konnte, dann muss man annehmen, dass seine Liedauswahl kein Zufall war. Sie kann in diesem Setting verschiedene Funktionen eingenommen haben; die Verarbeitung von Fremdheits- oder Kriegserfahrungen gewesen sein oder Heimweh und Sehnsucht nach der Heimat zum Ausdruck gebracht haben. Ebenso relevant wie die Frage, was durch Khan thematisiert wurde, ist auch die Frage danach, was nicht thematisiert wurde. Er hätte sich beispielsweise auch für ein religiöses Lied oder ein Lied aus einem heiteren, festlichen Kontext entscheiden können. Sicherlich können sich auch erlernte kulturelle oder regionalspezifische musikalische Gepflogenheiten auf die Auswahl ausgewirkt haben. Dennoch: Angesichts seiner prekären Lage als internierter Soldat aus dem Außereuropäischen im Kaiserreich sollte das Liedthema nicht als unbedeutend abgetan werden. Es gibt gute Gründe, die Liedauswahl auch als Ausdruck seiner Gefühlslage, geknüpft an diesen neuen Erfahrungshorizont, zu lesen. Man kann auch annehmen, dass mit der Möglichkeit, diesen emotionalen Zustand auf einer Platte festzuschreiben, der Wunsch verbunden war, gehört zu werden – selbst wenn nicht klar war, wer das Gesungene überhaupt hören würde. Denn fest steht auch, dass Khan in einem von Gewalt, Rassismus und Exotisierung geprägten Lageralltag – in Wünsdorf wie in Göttingen – kaum andere Möglichkeiten hatte, sich Gehör zu verschaffen.

Bei Tonaufnahmen wie P.K. 815, die bis heute Teil einer weit umfassenderen Sammlung sind, spricht etwa die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange deshalb von "Sensiblen Objekten". Damit verweist sie vor allem auf die von Gewalt gekennzeichneten Entstehungsbedingungen, aber auch auf die daraus erwachsende Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs mit diesen Objekten heute. Sie stellt fest, dass Personen aus dem Außereuropäischen als Individuen systematisch unsichtbar gemacht wurden, denn "in der Lagersituation […] scheinen Individualität, Subjektstatus und die Äußerung einer politischen Stimme vollkommen unterzugehen."[8]

 

… und ihr Stellenwert in der (sprach-)wissenschaftlichen Praxis

Hiervon zeugt, dass die Aufnahmen selbst "kaum wissenschaftlich bearbeitet, nicht gehört, ihre Botschaften nicht erhört" wurden.[9] ForscherInnen wie Friedrich Carl Andreas waren durch andere Interessen geleitet. Seit Jahrzehnten hatte er schon zu verschiedenen Sprachen des Nahen Ostens geforscht. Ihre Durchdringung, Typologisierung und Systematisierung mithilfe von sprachwissenschaftlichen Instrumenten war sein erklärtes Interesse. Über Khan schrieb er, dass dieser "seit seiner Kindheit […] neben seiner Muttersprache auch Brāhūī gesprochen [hat], so dass er auch für das Studium dieser Sprachen verwendet werden kann."[10] Andreas offenbart damit, dass in seiner Forschungspraxis nicht die sprechende Person von Bedeutung war, sondern das sprachliche Wissen, über das diese verfügte. Ziel seiner Bemühungen musste es daher zwangsläufig sein, möglichst viele sprachliche Äußerungen für seine Studienzwecke verfügbar zu machen – ungeachtet der physischen und psychischen Zwänge, die das für den Sprecher bedeuten konnte. Der singenden (oder sprechenden) Person wurde im Aufnahmeprozess die Subjektposition abgesprochen, sie war zuallererst wissenschaftliches Forschungsobjekt. Andreas' bis heute erhaltener Nachlass zeugt davon, dass er sein Ziel auch während der Arbeiten im Göttinger Kriegsgefangenenlager Ebertal konsequent verfolgte – dort fertigte er eine große Menge an schriftlichen Aufzeichnungen an und Khan war als Quelle für verschiedene Sprachen maßgeblich daran beteiligt.

Das Singen in den Phonogrammtrichter und das damit verbundene Bannen des Gesungenen auf eine Schellackplatte bedeutete, dass Aufnahmen wiederholt abgespielt werden konnten. Sprachliches Material wurde dadurch unter gleichen Bedingungen über einen längeren Zeitraum studierbar. Für Andreas barg das den Vorteil, dass er eine sprachliche Ressource nutzen konnte, ohne von der über sie verfügenden Person abhängig zu sein. Sobald das, was den Forscher an einer Sprache interessierte, aufgezeichnet war, verlor die Person, die diese Sprache sprach, zwangsläufig ihren Wert. In dem Maße, in dem Personen aus dem Außereuropäischen hergaben, worüber sie bis dahin exklusiv verfügt hatten, gewannen die europäischen ForscherInnen also die Deutungshoheit über einen Teil des Außereuropäischen – und damit auch über sie.

In das entstehende linguistische Material selbst schrieben sich die Kriegsgefangenen und ihre Erfahrungen etwa durch die Wahl der Erzählungen, Lieder oder Sprachbeispiele zwar unweigerlich mit ein. Die Erkenntnisse aus den durchgeführten Studien reklamierte allerdings allein Andreas für sich. Er legte fest, wie die weitere Arbeit mit den Aufzeichnungen, die man im Kriegsgefangenenlager gemacht hatte, zum Beispiel im Rahmen von Seminaren an der Universität aussehen sollte. Ganz selbstverständlich machte er die Sprachforschungen im Kriegsgefangenenlager zu seiner Eigenleistung und verschleierte dadurch, dass sie eigentlich eine Koproduktion verschiedener beteiligter Akteure darstellten.

 

Aktuelle Herausforderungen

Die Geschichte des Balutschen Schahdad Khan in Europa während des Ersten Weltkriegs berührt Fragen globaler Mächteverhältnisse und der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Rassismus ebenso wie Fragen danach, wie unter diesen Voraussetzungen Wissensproduktion und Forschungspraxis zeitgenössisch gestaltet waren. Darüber hinaus kann sie beispielhaft aufzeigen, wie unterschiedlich die Erfahrungsräume waren, die sich aus diesen Gegebenheiten für die beteiligten Akteure eröffneten – und wie sie doch immer miteinander verwoben waren. Die nach wie vor wirkmächtigen Gesetze und Dynamiken der einstigen kolonialen Weltordnung bringen es mit sich, dass historische Untersuchungen bis heute oft durch eurozentrische Perspektiven geleitet sind. Ohne das bewusste Einbeziehen von außereuropäischen AkteurInnen wie Schahdad Khan oder die kritische Untersuchung der Forschungsumstände wäre das Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung ein gänzlich anderes.

Der Versuch der Sichtbarmachung von Menschen wie Khan bringt allerdings einige Notwendigkeiten mit sich. Von ihm erhaltene Zeugnisse erfordern einen sensiblen Umgang, an den eine Reihe von moralisch-ethischen sowie juristischen Fragen geknüpft ist: Ist es beispielsweise vertretbar, ein Tondokument frei zugänglich zu machen, dessen Urheber sich im Moment der Aufnahme in einer von äußerem Zwang geprägten Situation befand? Ist es darüber hinaus tragbar, dass heute wieder europäische ForscherInnen darüber entscheiden, ob Khan gehört wird und wenn ja, in welcher Form? Und wem sollten überhaupt die Rechte an Objekten wie P.K. 815 obliegen? Von WissenschaftlerInnen erfordert diese Situation, dass sie nicht nur historische Fragestellungen möglichst reflektiert und kritisch angehen, sondern sich auch mit kolonialen Kontinuitäten innerhalb ihrer Disziplin und kolonialem Erbe im Allgemeinen auseinandersetzen.

Solche Fragen müssen aber auch gesamtgesellschaftlich thematisiert werden, damit Menschen wie Schahdad Khan in der Erinnerungskultur ein würdiger Platz zugedacht werden kann. Friedrich Carl Andreas' Bemerkung, dass er "durch Übernahme der Arbeit mit den Kriegsgefangenen ein Stück Gesundheit, ja vielleicht sogar ein Stück Leben aufs Spiel setzte"[11], muss Irritationen auslösen und zu kritischen Nachfragen führen. Nur dann kann eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Vergangenen beginnen, die sich nicht in der (fehlerhaften) Erwähnung Khans auf einer Gedenktafel erschöpft.

 

Von Lena Glöckler

 

 

Literaturhinweise

Irene Hilden, Who Sang this Song? Ein akustisches Zeugnis, gefangen zwischen Selbstermächtigung und Objektstatus, in: Anna-Maria Brandstetter/Vera Hierholzer (Hg.), Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen, Onlinepublikation 2007, 177–192, online unter: https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.14220/9783737008082 (Letzter Zugriff: 17.10.2019).

Britta Lange, "Denken Sie selber über diese Sache nach…" Tonaufnahmen in deutschen Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs, in: Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange (Hg.), Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2001, 62–89.

Heike Liebau, A Voice Recording, A Portrait Photo and Three Drawings. Tracing the Life of A Colonial Soldier, ZMO Working Paper Nr. 20, online unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-2018082011442984482541 (Letzter Zugriff: 10.12.2019).

Franziska Roy/Heike Liebau/Ravi Ahuja (Hg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914–1918, Heidelberg 2014.

 


 

[1] Universitätsarchiv Göttingen, Cod.Ms.F.C.Andreas 1:471, "Memorandum über die Kriegsgefangenen, deren Ueberführung in das Göttinger Lager befürwortet wird.", 11.4.1917, 34–37, 35.

[2] UArch, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an den Kurator der Universität Göttingen, 12.4.1919, 46–50, 47.

[3i] Lautarchiv HU Berlin, P.K. 309:1, "Ghazal des Mir Ser Muhammed Khan", 6.6.1916, Personalbogen.

[4] Ravi Ahuja, Vergessene Konfrontationen. Südasiatische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft, in: Franziska Roy/Heike Liebau/Ravi Ahuja (Hg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914–1918, Heidelberg 2014, 27–68, 28.

[5] UArch, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an den Kurator der Universität Göttingen, 12.4.1919, 46–50, 48.

[6] LArch, P.K. 815, "'Lied' Belutschi", 31.3.1917. Für die Möglichkeit, die Lautaufnahme in diesem Rahmen zugänglich zu machen, möchte sich die Verfasserin bei der Kustodin des Lautarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin, Frau Herdis Kley, bedanken.

[7] Die Rekonstruktion des Liedinhaltes basiert auf der fragmentarischen historischen Übersetzung, die vermutlich durch Josef Horovitz auf Grundlage einer verschriftlichten Version des Liedes angefertigt wurde. Solche "Sprachtexte" wurden in der Regel vor der eigentlichen Aufnahme angefertigt und stimmten in den meisten Fällen nicht vollständig mit dem tatsächlich Gesprochenen bzw. Gesungenen überein. Auch wenn das Erschließen des Gesungenen behutsam und nach bestem Wissen erfolgte, sind Irrtümer und Fehldeutungen nicht auszuschließen. Im Falle nützlicher Ergänzungen und Berichtigungen wird um Benachrichtigung gebeten.

[8] Irene Hilden, Who Sang this Song? Ein akustisches Zeugnis, gefangen zwischen Selbstermächtigung und Objektstatus, in: Anna-Maria Brandstetter/Vera Hierholzer (Hg.), Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen, Onlinepublikation 2007, 177–192, 187, online unter: https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.14220/9783737008082 (Letzter Zugriff: 17.10.2019).

[9] Britta Lange, "Denken Sie selber über diese Sache nach…" Tonaufnahmen in deutschen Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs, in: Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange (Hg.), Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2001, 62–89, 92.

[10] UArch Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, [Ohne Titel], [?].7.1917, 15–17, 16.

[11] UArch, Cod.Ms.F.C.Andreas 2: H. 6, Briefe aus den Jahren 1917–1923, Brief an den Kurator der Universität Göttingen, 12.4.1919, 46–50, 49–50.


Abbildungen

[Abb.1] Felix von Luschan, Kriegsgefangene. Ein Beitrag zur Völkerkunde im Weltkriege/Einführung in die Grundzüge der Anthropologie und Hundert Steinzeichnungen von Hermann Struck, Berlin 1917, 180. Urheber: Hermann Struck/Felix von Luschan (Eigener Scan). Rechtlicher Hinweis: Beide Urheber sind seit über 70 Jahren tot. Es handelt sich demnach sehr wahrscheinlich um ein gemeinfreies Werk (Lizenz: Public Domain [CC0 1.0 Universal, PD-Old, PD-US]).