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In Göttingen gab es zahlreiche Wissenschaftler, die in den Kolonien oder über Kolonien forschten und Wissen erstellten, das direkt oder indirekt half, koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten, koloniale Infrastrukturen aufzubauen oder koloniales Gedankengut zu legitimieren. Die Göttinger Kolonialforscher wurden von HistorikerInnen bisher unterschiedlich stark und ihr Schaffen oft recht unkritisch betrachtet. Wer aber waren die Göttinger Kolonialforscher? Wie fanden sie ihren Weg an die Universität Göttingen und welche Gemeinsamkeiten lassen sich in ihren Lebensläufen eventuell feststellen?

 

Göttinger Kolonialforscher in Göttingen und Übersee

Auch wenn Deutschland für eine vergleichsweise kurze Zeit Kolonien in Übersee innehatte, so lassen sich Spuren kolonialen Forschens noch heute an der Universität Göttingen finden. Göttinger Kolonialforscher produzierten in den verschiedensten Disziplinen Wissen und veränderten so auch die Lehre innerhalb dieser Fächer für nachfolgende Generationen.

Viele der Göttinger Forscher verschlug es dabei zu Forschungszwecken in die Kolonien selbst: Einige von ihnen waren dabei bereits vor ihrer Abreise in Göttingen tätig. Andere hingegen kamen es erst nach ihren Forschungsaufenthalten aus unterschiedlichen Gründen an die Universität Göttingen, um dort ihr erlangtes Wissen unter anderem in der Lehre weiterzugeben. Um das sogenannte „Samoa-Fieber“ sowie diverse Augenerkrankungen zu erforschen, machte sich der Augenarzt Alfred Leber im Jahr 1910 auf den Weg zu eben jener Insel im Pazifik. Einige Jahre zuvor fand sich 1902 bereits der Astronom Otto Tetens für die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen auf Samoa ein, um dort den Bau eines Observatoriums zu beaufsichtigen. Beiden Forschern bat sich mit diesen Aufenthalten in den deutschen Kolonien die seltene Gelegenheit, außerhalb Europas neue und eventuell sogar bahnbrechende Erkenntnisse für ihre jeweiligen Disziplinen, in dem Fall Medizin und Astronomie zu gewinnen.

Auch der Göttinger Botaniker Albert Peter unternahm eine Forschungsreise in die deutschen Kolonien. Nachdem er bereits mit 60 Jahren erfolgreich die finanzielle Unterstützung für seinen Forschungsaufenthalt in Afrika von 1913 bis 1919 erlangen konnte, unternahm er zehn Jahre später eine ähnliche Reise. Zu dieser kam es unter anderem deswegen, da Peter zu seiner großen Enttäuschung „Fundstücke“ seiner ersten Reise verloren gingen. Durch Peters Forschungsreisen und seine „gesammelten Funde“ wuchs schließlich auch der Botanische Garten Göttingens zu einer Größe heran, die ohne den Zugang zu den Kolonien in dieser Art nur schwer möglich gewesen wäre.

Peters Vertreter in Göttingen von 1915 bis 1921, der Botaniker Moritz Büsgen, unternahm vor seiner Vertretung ebenfalls ausgedehnte Forschungsreisen, welche seine Expertise als Kolonialbotaniker erweiterten. Sie führten ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Beispiel nach Niederländisch-Indien und später auch nach Kamerun. Ohne die Reisen zu den Kolonien hätte auch Büsgen wohl kaum die Möglichkeit gehabt, neues Wissen innerhalb der Forstwissenschaften zu erlangen, welches er wiederum an seine Studenten weitergeben konnte. Ebenso profitierten wohl auch viele andere im Kaiserreich von seinen Erkenntnissen im Hinblick auf die wirtschaftliche Nutzung jener Kolonien.

Andere Forscher wiederum verließen Deutschland gar nicht, blieben häufig sogar die meiste Zeit in Göttingen, und trugen doch insofern zu einer Forschung bei, die hilfreich für den Aufbau kolonialer Herrschaft war. Sie schrieben Arbeiten, die den Aufbau der kolonialen Infrastruktur beförderten oder werteten Material aus, welches – auf der Grundlage eher zweifelhafter Methoden – aus dem Außereuropäischen nach Göttingen gebracht worden war. Zu diesen Forschern zählt beispielsweise der Geograph Hermann Wagner. Der ursprünglich studierte Mathematiker und Physiker arbeitete zwölf Jahre lang als Gymnasiallehrer in Gotha. Gleichzeitig setzte er sich dafür ein, dass an sämtlichen Universitäten Preußens Geographie gelehrt werden sollte. 1880 schließlich selbst an die Göttinger Universität berufen, leistete der Pionierarbeit für das spätere Geographische Seminar. Die von Geographen erstellten Karten waren wiederum unerlässlich für die Metropolen, um zu berechnen, welche Teile der Kolonien, wie und durch welchen Plantagenbau nutzbar gemacht werden sollen. Auch konnte keine Eisenbahnstrecke, ja kaum eine Brücke in den Kolonien gebaut werden, ohne dass man sich vorher bei Geographen über die Gegebenheiten der Region erkundigt hatte. Die Kolonien gaben der Geographie und ihren Vertretern wie Wagner einen gänzlich neuen Stellenwert als Disziplin, denn mit ihr ließen sich die besetzten Gebiete in Übersee nun noch deutlich profitabler erschließen und nutzen. So ist es kein Wunder, dass die Geographie in der Kolonialzeit einen ungeheuren Aufschwung nahm, und zu einer der für koloniale Unternehmungen wichtigsten Wissenschaften wurde.

Auch der Orientalist Friedrich Carl Andreas half durch seine Sprachforschungen dem kolonialen Projekt. Zurückgekehrt von seinen Reisen durch Persien konnte er in Göttingen seine Expertise nutzen, um anschließend als erster Göttinger Professor für „Westasiatische Sprachen“ die zuvor entdeckten „Turfanfragmente“ aus Zentralasien zu entziffern. Auch war sein Wissen um die persische Kultur auch Kolonialmächten wie Großbritannien dienlich, gehörte Persien doch zeitweise zu den britischen Kolonien.

Der Arzt Wilhelm Arning sammelte Ende der 1890er Jahren zunächst als Schutztruppenarzt in Deutsch-Ostafrika Kolonialerfahrungen. Zurück in Deutschland unternahm er mehrere Reisen nach Kleinasien und Afrika, um kolonialwirtschaftlichen Fragen nachzugehen. Nebenbei setzte er sich als Politiker im Reichstag und als späterer Leiter der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen, in der Nähe der Universität Göttingen, für koloniale Interessen ein.

 

Der Weg zum Kolonialforscher

Während einige der Göttinger Kolonialforscher zumeist einen akademischen Hintergrund hatten oder zumindest eine eher klassische akademische Karriere absolvierten, trifft dies durchaus nicht auf alle zu. So zeigt der aus einer Familie von Handwerkern stammende Botaniker und Göttinger Ordinarius Albert Peter zunächst, dass soziale Mobilität im 19. Jahrhundert durchaus möglich war. Dies lässt sich wohl auch von Otto Tetens behaupten. Der studierte Astronom, Physiker und Mathematiker wurde als Sohn eines Polizisten geboren. Der Geograph Hermann Wagner stellt zudem das dar, was heutzutage wohl als Quereinsteiger bezeichnet werden würde: Lange Zeit im Lehrberuf, arbeitete der studierte Physiker und Mathematiker Wagner letztlich vier Jahrzehnte als Geograph an der Universität Göttingen. Von dieser Interdisziplinarität profitierte wohl nicht zuletzt auch seine Lehre. Der Orientalist Friedrich Carl Andreas brachte ebenfalls seine ganze eigene Expertise in seine Lehre ein. Teilweise aufgewachsen in den Teilen der Welt, die man damals als Orient bezeichnete, erkundete er auf eigene Faust acht Jahre lang Persien und arbeitete in dieser Zeit durchaus auch in nicht-akademischen Bereichen wie beispielsweise als Postbote und am persischen Königshof.

Einige der Göttinger Kolonialforscher engagierten sich auch sehr in der Lehre. Hermann Wagner verfügte als ehemaliger Lehrer wahrscheinlich ohnehin über einen gewissen didaktischen Zugang. Albert Peter hatte ursprünglich sogar vor, den Lehrberuf zu ergreifen, und seine Göttinger Lehrveranstaltungen wurden von seinen Studenten sehr geschätzt. Auch Friedrich Carl Andreas legte viel Wert auf die mündliche Überlieferung seines Wissens, freilich hielt er seine Vorlesungen zuweilen nachts ab. Auf das Publizieren seiner Forschungen und Erkenntnisse schien er sich wiederum eher weniger zu verstehen. In einer Festschrift sammelten stattdessen Andreas‘ Freunde und Kollegen anlässlich seines 70. Geburtstags im Jahr 1916 eigenständig die Forschungsergebnisse des Orientalisten. Ebenso wenig schien sich Otto Tetens auf die Publikation seiner Forschungsergebnisse zu konzentrieren. Dieser Unwillen sollte ihm noch einigen Ärger seitens der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen einbringen.

 

Going Native oder Nutznießer?

Bei einigen der Göttinger Kolonialforscher lässt sich eine Art going native während ihrer Zeit in den Kolonien beobachten. Beispielsweise schien der Arzt Alfred Leber sich teilweise sehr intensiv, teilweise sogar während er selbst erkrankt war, um seine einheimischen PatientInnen auf Samoa zu kümmern. War er auf Samoa zunächst aus wirtschaftlichen Gründen eingesetzt worden, wurde er durch seine Arbeit innerhalb der Bevölkerung angeblich sogar bald so geschätzt, dass er gar zum „Ehrenhäuptling“ Samoas ernannt wurde. Ob diese Zuschreibung eher einer gekonnten Selbstinszenierung entsprach oder als Ausdruck lokaler Wertschätzung zu verstehen ist, muss freilich dahin gestellt bleiben.

Auch Andreas lebte selbst lange Zeit in dem Land, dessen verschiedene Sprachen er sein Leben lang studieren sollte, und führte dabei die unterschiedlichsten Tätigkeiten aus. Später in seiner Karriere machte er sich die Abhängigkeit Anderer jedoch aus Forschungszwecken auch zu Nutzen, beispielsweise, als er Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen der gegnerischen Kolonien anfertigte. Einer derartigen Notlage ausgesetzt ist es zu bezweifeln, dass diese Aufnahmen seitens der Gefangenen vollkommen freiwillig stattfanden. Andreas mag durch diese Arbeit zum kolonialen Wissen beigetragen haben, die zweifelhafte Entstehung der Tonaufnahmen sollte dabei dennoch präsent sein.

Auch der Astronom Otto Tetens hatte sich – so behaupteten es zumindest europäische Zeitgenossen – an die einheimische Wohn- und Lebensweise angepasst. Tetens machte sich posthum insbesondere durch seine zahlreichen Fotographien aus seiner Zeit auf Samoa einen Namen. Diese zählen zu den frühesten Bilddokumenten Samoas überhaupt. Heute sind sie von historischem Wert.

Viele Göttinger Forscher standen dem Kolonialismus auch nach dessen Ende noch positiv gegenüber – darin freilich waren sie ihren Kollegen an anderen Universitäten nicht unähnlich. Der Arzt, Kolonialpolitiker und Leiter der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen, Wilhelm Arning, setzte sich Zeit seines Lebens nicht nur seinen Schülern gegenüber für die koloniale Idee ein.

 

Eine ungewisse Zukunft

Manche der Wissenschaftler hatten nach ihrer Rückkehr aus den Kolonien erst einmal mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Für sie war es nicht leicht, ihren Platz in der akademischen Welt (wieder) zu finden. So hatte Alfred Leber noch vor seiner Forschungsreise nach Samoa im Jahr 1910 eine Arbeitsstelle als „Privatdozent für Augenheilkunde“ an der Berliner Universität inne. Als die Leitung dieser Augenklinik wechselte, wird Leber nach seiner Rückkehr entlassen, um Platz für die Mitarbeiter des neuen Leiters zu schaffen. Ebenso fiel Friedrich Carl Andreas der Wiedereintritt ins akademische Leben schwer. Nachdem er in den 1870er Jahren in Persien geforscht hatte, schwebte auch Andreas‘ berufliche Zukunft nach seiner Rückkehr nach Deutschland des Öfteren im Ungewissen. Seine Anstellung als Dozent für Türkisch und Persisch an der Universität Berlin konnte er aufgrund von Unstimmigkeiten nur vier Jahre lang bekleiden. Auch Otto Tetens hatte nach seinem Forschungsaufenthalt Schwierigkeiten, sich in die akademische Welt einzugliedern. Bereits auf Samoa war seine Arbeitsweise derart bemängelt worden, dass 1904 schließlich ein Kollege die Leitung des Observatoriums für ihn übernahm. Tetens schaffte es schließlich auch in Göttingen nicht, seine Forschungen angemessen zu verschriftlichen. Sein Ruf verschlechterte sich zusehends, so dass auch Kollegen wie Hermann Wagner ihm die Qualifikation absprachen, künftig andere Observatorien zu leiten.

 

Einflussreiche Bekannte und Verwandte

Der Wiedereintritt in die Universität und somit zur akademischen Karriere wurde nicht selten erst durch einen einflussreichen Bekannten oder Verwandten ermöglicht. Leber erhielt schließlich durch die Hilfe seines Onkels 1912 eine Anstellung an der seinerzeit fortschrittlichen Augenklinik der Universität Göttingen, an welcher er nur zwei Monate später Professor werden sollte. Auch Andreas konnte nach diversen beruflichen Rückschlägen an der Universität Göttingen den neu eingerichteten „Lehrstuhl für Westasiatische Sprachen“ besetzen, welche er nicht zuletzt durch den Kontakt mit dem Philologen Georg Wissowa erhielt. Tetens erlangte trotz seines schlechten Rufs als Forscher letztlich aus eigenem Antrieb Anstellungen an der Sternwarte in Kiel und später dem Observatorium in Lindenberg. Seine Karriere als Kolonialforscher war freilich zuvor von einem Onkel gefördert worden, welcher bereits selbst Kolonien „erkundet“ hatte.

So unterschiedlich die Hintergründe der Göttinger Wissenschaftler waren, die sich schließlich durch koloniale Forschungen einen Namen machten, gemeinsam war ihnen, dass sie an der Universität Göttingen ihre jeweiligen Disziplinen nachhaltig gestärkt haben. Ohne die deutschen Kolonien wären viele dieser Forscher wohl kaum zu anerkannten Experten auf ihrem Gebiet geworden – der Kolonialismus diente ihnen als akademisches Sprungbrett. Dass sie dafür etablierte koloniale Infrastrukturen genauso wie die aktive Mithilfe zahlreicher Intermediaries brauchten, die diese teilweise unter Zwang erbringen mussten, versteht sich dabei von selbst.

 

Von Larissa Goltz

 

 

Literaturhinweise

Gerhard Wagenitz, Albert Peter, in: Karl Arndt/Gerhard Gottschalk/Rudolf Smend (Hg.), Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751–2001, Göttingen 2001, Bd. 1, 254–255.

Dinge des Wissens, Albert Peter - Brettwurzeln und Lianen für Göttingen. Online unter: http://dingedeswissens.de/ddw/de/projects/sammeln/albertpeter/ (Letzter Zugriff: 13.2.2020).

Gerhard Wagenitz, Göttinger Biologen 1737–1945. Eine biographisch-bibliographische Liste, Göttingen 1988.

Johannes W. Grüntzig/Heinz Mehlhorn, Expeditionen ins Reich der Seuchen. Medizinische Himmelfahrtskommandos der deutschen Kaiser- und Kolonialzeit, München 2005.

Karl Arndt/Gerhard Gottschalk/Rudolf Smend (Hg.), Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751–2001, 2 Bde., Göttingen 2001

Dietrich Denecke, Hermann Wagner und die Entwicklung der Geographie an der Albertus-Universität in Königsberg, in: Dietrich Rauschning/Donata v. Nerée (Hg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren, Berlin 1995, 711–727.