Obschon Göttingen um 1900 kaum mehr als 27.000 EinwohnerInnen zählte, die Zugverbindung nach Hannover noch in Stunden und nicht in Minuten gemessen wurde und Frauen noch kein Wahlrecht hatten, unterschied es sich in einem wesentlichen Punkt nicht von heute: Göttingen war im Kaiserreich wie am heutigen Tag vor allem eine Universitätsstadt. Eine Stadt, die Wissen schafft – so der aktuelle Werbeslogan. Auch um 1900 dominierte die Universität mit ihren über 1.000 Studenten (Studentinnen waren erst ab 1908 zugelassen) das städtische Leben.
Während sich ArbeiterInnen in der Nähe von Fabriken in Weende und Geismar angesiedelt hatten und im sogenannten „Klein-Paris“ (heute Turmstraße) Arme und Prostituierte wohnten, wurde das Göttinger Stadtbild mehrheitlich vom protestantischen Bürgertum bestimmt. Begüterte Studenten, Pensionäre und das für Göttingen besonders wichtige Bildungsbürgertum wohnte zumeist im Ostviertel in der Nähe des aufgeforsteten Stadtwaldes.
In diesen Kreisen war man konservativ bis moderat liberal gestimmt, glaubte an den Wert humanistischer Bildung, und dank einer fortschrittlichen und von Berlin maßgeblich mitbestimmten Universitätspolitik begann man die Naturwissenschaften mit ihrem teilweise geradezu euphorischen Fortschrittsversprechen zu bewundern und richtete mehr und mehr Lehrstühle für Physik, Chemie und Medizin ein.
Was hat diese eher beschauliche und doch von sich selbst vor allem aufgrund einer bedeutenden Geschichte als Universitätsstadt recht überzeugte Stadt mit Kolonialismus zu tun? Welche kolonialen Bilder kamen wie nach Göttingen? Begeisterte man sich für die Kolonien oder wurde Kolonialkritik laut? Gab es koloniale Netze?
Luftaufnahme der Göttinger Innenstadt am 9. Juli 1911.[Abb1.]
Koloniales Denken
Koloniales Denken nimmt im 19. Jahrhundert langsam Gestalt an: Bereits im 18. Jahrhundert entstand die Vorstellung, man könne Menschen aufgrund körperlicher Merkmale in unterschiedliche Rassen einteilen. Im 19. Jahrhundert begannen europäische Gelehrte, diesen unterschiedlichen Rassen bestimmte intellektuelle und moralische Eigenschaften zuzuschreiben, welche man glaubte, an der Schädelform, dem Abstand der Nasenwurzel zum Kinn oder anderen körperlichen Merkmalen festmachen zu können. Andere Forscher verbanden diese Ideen mit der seit der Aufklärung weit verbreiteten Vorstellung, die Menschheit habe sich entlang verschiedener Zivilisationsstufen immer weiter entwickelt und habe nun in Europa ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, während andere Kontinente noch auf einer niederen Stufe verharren würden. So entstand die in Europa im 19. und 20. Jahrhundert sehr populäre Vorstellung, man selber sei auf der höchsten Stufe der Entwicklung angekommen und sei deshalb Menschen jenseits von Europa geistig und moralisch überlegen.
Mit dem Erwerb von Kolonien wurde dieses vermeintlich wissenschaftliche Wissen, welches mittlerweile in abgewandelter Form in Werbung, Kinderbücher und Museen Eingang gefunden hatte, auch konkret wirtschaftlich und politisch wirksam. Kolonialpropagandisten wie der Göttinger Student Carl Peters nutzten diese rassistischen Vorstellungen, um die Legitimität kolonialer Herrschaft zu begründen. Sie argumentierten, dass etwa AfrikanerInnen allein aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften aufwiesen; man charakterisierte sie als faul und nur mit beschränkten intellektuellen Fähigkeiten versehen, daher eher handwerklich, nicht jedoch kreativ begabt. Deshalb sei es notwendig, dass sie von Vertretern der „weißen Rassen“ unterwiesen, geführt und bei Ungehorsam hart bestraft würden.
Dieses koloniale Denken ging einher mit der Überzeugung eigener kultureller Höherwertigkeit, die nicht selten religiös begründet wurde – so wurden Missionsvereine auch in Göttingen nicht müde zu predigen, man müsse die koloniale Bevölkerung „erlösen“ von einem Glauben, der minderwertig sei, um sie zu einem höherwertigen christlichen Glauben zu führen.
Koloniales Denken hatte also viele Facetten: Es ging von Europas rassischer Überlegenheit aus, reduzierte Menschen auf körperliche Merkmale wie der Hautfarbe und unterteilte damit die Welt in Länder, die Kolonien hatten und solche, die Kolonien waren.
Wie kolonial war Göttingen?
Göttingen ist weder Geburtsort bedeutender Kolonialagitatoren, noch weist seine Universität die wichtigsten Koryphäen der kolonialen Rasseforschung vor. Und doch gab es in Göttingen Studenten wie Carl Peters, der als Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika gilt. Peters grausames Verhalten in den Kolonien löste 1897 einen der ersten Kolonialskandale aus. Ihm wurde vorgeworfen, seine afrikanische Geliebte umgebracht und andere Afrikaner in den Kolonien zu Tode geprügelt zu haben. Auch gab es eine Reihe von Professoren, die unter anderem in der nahe gelegenen Kolonialschule Witzenhausen lehrten, wo auch nach dem offiziellen Ende des deutschen Kolonialreichs „Kolonialpioniere“ ausgebildet wurden. Ebenso lassen sich Theologen finden, für die Mission und Kolonialismus Hand in Hand gingen, und Mediziner, die die Kolonialbevölkerung zu medizinischen Forschungsobjekten machten.
Aber auch Professorengattinnen, Regierungsrätinnen (wie die Ehefrauen von Regierungsräten zeitgenössisch genannt wurden) und Töchter von Bauräten engagierten sich für die und in den deutschen Kolonien: Sie sammelten Geld für die Kolonien oder reisten, wie Hedwig Rohns, gleich selbst nach Deutsch-Togo, um „Krausköpfchen“ – so nannte sie die Kinder, denen sie neben dem Christentum auch Nähen und Stricken beibringen wollte – zu unterrichten. Nicht zu vergessen sind die in Göttingen stationierten Soldaten, die sich zuhauf für den Krieg in der deutschen Kolonie Südwestafrika meldeten, der heute als erster Genozid gilt. Zu erinnern ist aber auch an den Kolonialismus im Göttinger Alltag – jede Lektüre des Göttinger Tageblattes bot Anzeigen, die mit rassistischen Stereotypen arbeiteten und offen die vermeintliche weiße Überlegenheit priesen, der allein es zu verdanken sei, dass man nun auch in Göttingen Kaffee von afrikanischen Kolonialplantagen kaufen könne.
Hedwig Rohns (1852–1935), Tochter des Göttinger Baurates Rohns, arbeitete als Diakonisse für die Norddeutsche Mission in Westafrika.[Abb.2]
Kann man Göttingen allein deswegen schon eine Metropole des Kolonialismus nennen? Und wie passt das zu der Tatsache, dass in Göttingen auch antikoloniale Flugblätter in Umlauf gebracht wurden (wenn auch erst in den 1920er Jahren und keineswegs unter Federführung deutscher Studenten)? Oder war Göttingen nicht einfach genauso kolonial wie alle größeren und kleineren Städte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England und Belgien – um nur die wichtigsten europäischen Kolonialländer zu nennen?
Lässt sich in Göttingen also eine besondere Form kolonialen Denkens finden? Und wie steht es mit dem kolonialen Erbe heute?
Kolonialismus am Göttinger Küchentisch
Die Nachfrage nach Kolonialwaren wurde in der Göttinger Bevölkerung immer größer. Zu diesen Produkten, die in den Anzeigen des Göttinger Tageblatts beworben wurden, zählten Tee, Kaffee, Kakao, Tabak, Kokosnussbutter und Gummireifen aus Kautschuk. Sie wurden unter Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien angebaut oder hergestellt. Große Bilder und Werbesprüche bewarben diese Produkte durch Klischees und exotische Vorstellungen der Orte, an denen diese produziert wurden. Unter den Anzeigen findet man Produzenten und Straßennamen, die man heute noch kennt.
Einerseits spiegelten die Produktnamen von Kolonialwaren das deutsche Selbstbild militärischer Stärke und imperialer Größe wider, zum Beispiel „Sprengler’s Deutsche Kaiser Chocolade“ und „Bergers Admiral Schokolade“. Andererseits suggerierten verniedlichende und rassistisch aufgeladene Werbefiguren wie die der Kokosnussbutter Cocosa die vermeintliche Rückständigkeit der Kolonisierten. Die Bedingungen kolonialer Herrschaft – Gewalt und Zwangsarbeit – wurden damit zum Verschwinden gebracht. Die kolonisierte Bevölkerung wurde zu „willigen Dienern“ degradiert.
Ab 1908/09 wurde die Vielfalt kolonialer Produkte noch größer. Anzeigen bewarben außerdem Reisen in den Orient oder nach Amerika. Kaffee- und Teestuben wie Cron & Lanz oder zahlreiche Kolonialwarenhändler sorgten nicht nur für die einfache Verfügbarkeit der Waren, sondern eröffneten den Göttinger BürgerInnen die Möglichkeit eines Freizeitvergnügens. Kolonialismus wurde Teil der alltäglichen Zeitungslektüre und darüber hinaus fester Bestandteil des Göttinger Lebens.
Wie haben die Kolonialvereine das Göttinger Leben beeinflußt?
Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden im gesamten Kaiserreich zahlreiche Vereine gegründet, die sich auf vielfältige Art und Weise für die Kolonien interessierten. Im Folgenden werden exemplarisch zwei Vereine vorgestellt, die auch in Göttingen sehr aktiv waren und in denen sich vor allem das gehobene Bürgertum (zum Beispiel Professoren, Bauräte, Landrichter, Oberlehrer, Kaufmänner, hochrangige Militärangehörige und deren Gattinnen) engagierte.
In Göttingen gab es seit 1908 eine Abteilung des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft mit dem Ziel, deutsche Frauen und Mädchen zu unterstützen, die in die Kolonien ausreisen wollten oder bereits dort waren. Im Zentrum stand die Förderung der „Trägerinnen der deutschen Rasse und Kultur“. Die Göttinger Abteilung brachte sich unterschiedlich in die Kolonialarbeit ein.
So wurden unter anderem kinematografische Vorführungen im Stadtpark (zum Beispiel mit dem Titel „Das Leben und Treiben in den Kolonien“) veranstaltet oder ein sogenannter „Fünfuhrtee“ organisiert. Schon der erste Fünfuhrtee, der am 4. Januar 1910 stattfand, zog über 120 GöttingerInnen an, sodass man seitdem jeden ersten Freitag im Monat zu Vorträgen, Filmen und anderen Veranstaltungen einlud. RednerInnen berichteten bei diesen Veranstaltungen über ihr Leben in den Kolonien, über Entdeckungen von Forschungsreisenden und zukünftige Projekte.
Die Göttinger Abteilung konnte außerdem im März 1918 eine Mitgliederzahl von 135 Personen vorweisen, während die Ortsgruppen wesentlich größerer Städte wie Köln (177 Mitglieder) und Hannover (139 Mitglieder) nur eine unwesentlich größere Anzahl an UnterstützerInnen hatten. Dies zeigt deutlich das Engagement des gehobenen Bürgertums für den Kolonialismus und damit die Etablierung des kolonialen Projekts im Alltag Göttingens.
Des Weiteren war auch der Alldeutsche Verband (Mitgliederzahl in Deutschland 1918: 35.000) in Göttingen aktiv, welcher als Massenverband innerhalb des Kaiserreichs vor allem an der Verbreitung seiner stark imperialistischen und nationalistischen Ideologie interessiert war.
Bereits drei Jahre nach seiner Gründung veröffentlichte der Verband im April 1894 ein umfassendes und striktes Kolonialprogramm. In diesem wurde unter anderem gefordert, dass die deutschen Besitzungen wesentlich erweitert, die portugiesischen Kolonien zu Gunsten Deutschlands aufgeteilt sowie die militärischen Mittel für die Expansion verstärkt werden sollten. Die Göttinger Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes veranstaltete regelmäßig Vorträge über politische Themen im Zusammenhang mit der Kolonisation (zum Beispiel mit den Titeln „Das Wesen nationaler Kolonialpolitik“ und „Streifzüge durch die deutschen Kolonien Rio Grande Suls“) und rief immer wieder mit Anzeigen im Göttinger Tageblatt zu Spenden auf.
Besonders für den sogenannten „Burenkrieg“ und dessen Opfer gab es Spendenaufrufe. Dieser Krieg wurde zwischen 1899 und 1902 zwischen Großbritannien, das sein Kolonialreich erweitern wollte, und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat sowie der Südafrikanischen Republik ausgetragen.
Allein aus der hohen Anzahl an Vorträgen zu kolonialen Themen und aus der Höhe der Spenden, die gesammelt wurden und über die die Alldeutschen Blätter berichteten, wird ein reges Interesse der GöttingerInnen am Kolonialismus erkennbar.
Eine im Göttinger Tageblatt geschaltete Einladung zu einem vom Alldeutschen Verband organisierten Vortrag "Kolonisation und nationale Größe" im Jahre 1902.[Abb.3]
Göttinger Kolonialausstellung
Einnahmen in Höhe von 11.000 Mark, davon 4.500 Mark Reingewinn – die Göttinger Kolonialausstellung erwies sich als kommerzieller Erfolg. Nach Auffassung der VeranstalterInnen vom Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft bezeugte der finanzielle Überschuss gar, „dass in unserem Göttingen rege koloniale Interessen bestehen.“ Tatsächlich lassen auch Umfang und Ausstattung der Ausstellung einen ähnlichen Schluss
zu. Mit ihrer Eröffnung am 4. November 1909 im Hotel Englischer Hof wurden den Besucherinnen und Besuchern drei Tage lang zahlreiche Exponate aus fast allen deutschen Kolonien dargeboten.
Zeitungswerbung für die Kolonialausstellung.[Abb.4]
Darunter waren nicht nur Gebrauchsgegenstände, Waffen, ausgestopfte Tiere, Puppen, Schmuck, Muscheln et cetera, sondern, wie im Göttinger Tageblatt beworben, auch „allerliebste Nigger“, „Eingeborenentänze“, Theaterstücke und zum Verkauf stehende Ethnographica.
Kolonialausstellungen waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überaus beliebt. Durch die öffentliche Präsentation von Authentizität suggerierenden Gegenständen mit kolonialen Bezügen sollte dabei nicht zuletzt auch die eigene Überlegenheit gegenüber den „kolonialisierten Subjekten“ propagiert werden. Ein auf der Göttinger Kolonialausstellung nachgebauter Pfahlbau aus Neu-Guinea zeige demnach das dortige primitive Ansiedlungsstadium, welches „unsere Vorfahren“ bereits „vor mehreren Jahrtausenden überwunden“ hätten. Originalität versprechende Rekonstruktionen von „Buschmannsmalereien“ sollten zudem „vollkommen verdeutlichen, dass man jene halbwilden Stämme in Bezug auf ihren Intellekt mit Kindern gleichstellen darf.“ Man betrachtete die kolonialisierten Bevölkerungen als zivilisatorisch unterentwickelt, als unfähig, sich selbst zu regieren.
Doch sollte die Göttinger Kolonialausstellung nicht nur Einblicke in das vermeintliche Leben „unserer schwarzen Untertanen“ gewähren und der Verbreitung kolonialer Stereotypen und Rassismen Vorschub leisten. Sie diente auch der konkreten Durchsetzung kolonialer Herrschaft. So kam ein großer Teil der Einnahmen dem Bau des Heimathauses in Keetmanshoop zugute – einem Frauenhaus in Deutsch-Südwestafrika, welches deutsche Frauen auf ihre „wichtigen Aufgaben der deutschen Kindererziehung und der inneren Deutschwerdung unserer Kolonien“ vorbereiten sollte.
In derselben Kolonie, dem heutigen Namibia, hatten sich indes nur wenige Jahre zuvor die Herero und Nama gegen die „Deutschwerdung“ ihrer Heimat aufgelehnt – Zehntausende waren daraufhin der genozidalen Vernichtung durch deutsche „Schutztruppen“ zum Opfer gefallen.
Göttinger als Kolonialkrieger?
Das 2. Kurhessische Infanterie-Regiment Nr. 82 wurde 1870 in die Garnisonsstadt Göttingen verlegt und war von da an bis 1945 in die Göttinger Gesellschaft integriert. Mitte Januar des Jahres 1904 begannen in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, die Aufstände der Herero und Nama.
Das Göttinger Tageblatt veröffentlichte Ende Januar 1904 mehrere Aufrufe, sich für den Krieg gegen die Aufständischen in Deutsch-Südwest freiwillig zu melden. Zudem wurde ein ausführlicher Artikel über die Lage in Deutsch-Südwestafrika in einer Beilage des Göttinger Tageblatts veröffentlicht. Für den Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama meldeten sich aus dem Göttinger Regiment, welches ungefähr eine Stärke von 2.000 Mann hatte, über 100 Männer freiwillig; immerhin 5% des gesamten Regiments. Von den 82ern gingen insgesamt 42 Freiwillige Anfang Februar nach Deutsch-Südwest. Das ist eine bemerkenswert hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass aus ganz Deutschland nur 1.000 Mann überhaupt rekrutiert worden sind. Sie nahmen an einem Krieg teil, der heute als Genozid gilt.
Schätzungsweise kostete dieser Krieg zwischen 40.000 und 100.000 Herero und Nama das Leben. Dem stehen 676 gefallene und 689 an Krankheiten verstorbene deutsche Soldaten gegenüber. Den vier Gefallenen 82ern zu Ehren errichtete das Göttinger Regiment im Oktober 1910 eines der ersten Kolonialdenkmäler in Deutschland. Während der Hundertjahrfeier des Regiments im August 1913 wurde das Denkmal noch um einen Bronzeadler erweitert. Seit 1978 steht es im Mittelpunkt politischer Kontroversen.
Göttingen hatte durch sein Regiment eine enge Verbindung zu Deutsch-Südwestafrika und zeigte, auch nach dem Verlust der deutschen Kolonien, starkes Interesse an Kolonialismus. Das zeigt sich vor allem in der „Festschrift zum 4. Regimentsapell des 2. Kurhessischen Infanterie-Regiments Nr. 82“ aus dem Jahr 1937 sowie in den Berichten des Göttinger Tageblatts im Rahmen der Hundertjahrfeier des Regiments. Es finden sich auch mehrere ehemalige 82er, wie zum Beispiel Hermann Hennecke (1894–1896 in der 2. Kompanie des Regiments stationiert), die nach ihrer Dienstzeit im Regiment Kolonialwarenläden in Göttingen eröffneten.
Dieses Ergebnis lässt die Schlussfolgerung zu, dass die GöttingerInnen sich mit ihrem Regiment eng verbunden fühlten und es, vor allem in den kolonialen Bestrebungen, weitgehend unterstützten.
Das „Südwestafrika-Denkmal“ an der Gabelung der Geismarer Landstraße und dem Friedländer Weg.[Abb.5]
Spuren antikolonialen Engagements in Göttingen
Die deutschen Kolonien waren zwar mit dem Ersten Weltkrieg verloren gegangen, doch koloniales Erbe und Strukturen sollten weiterhin – auch in Göttingen – fortbestehen. Auch entstanden kolonialrevisionistische Strömungen, die auf eine Rückeroberung der Kolonien abzielten. Gleichzeitig gab es in Deutschland immer mehr Studierende aus ehemaligen Kolonien, unter anderem aus Kiautschou. An der Universität trafen deutsche Studierende in der Weimarer Republik auf 88 chinesische (1920–1933), deren Heimat nach wie vor unter kolonialer Politik litt. Der Austausch trug bei beiden Gruppen zu antikolonialen Gedanken bei.
Chéng Qíyīng 程琪英 (1904–1968) war eine der politisch aktivsten Studentinnen. Ihr Dozent in der Philosophie, Leonard Nelson (1882–1927), war überzeugt, der Zerfall des chinesischen Reiches ließe sich direkt auf die europäische Expansion zurückführen. Im Zuge ihres politischen Engagements sprach Chéng Qíyīng beispielsweise 1932 in Berlin, wo man die europäische Fortführung einer „Mission“ im Sinne einer kolonialen Politik ohne Kolonien kritisierte. Sie vertrat dabei nicht nur Nelsons These, sondern weitete diese auf die Rolle von Deutschen in kontemporären ostasiatischen Konflikten aus. Eine Rednerin wies zusätzlich darauf hin, dass „die Tätigkeit der Deutschen Kolonialgesellschaft sich wieder verstärkt bemerkbar macht mit dem Erfolg, daß in mehreren deutschen Ländern, […] Schulerlasse herausgekommen sind, in denen die Beeinflussung der Jugend im Sinne der ‚Notwendigkeit der Zurückgewinnung der deutschen Kolonien‘ befohlen wird.“
Chéng Qíyīng hielt vor deutschem Publikum noch mehrere Vorträge in Göttingen, Kassel, Braunschweig, Hannover, Berlin.[Abb.6]
Von Nelson beeinflusst, hatte Chéng Qíyīng bereits 1925 beim Verteilen einer antikolonialen Flugschrift in Göttingen mitgewirkt, die explizit als Gegendarstellung zu den Zeitungsberichten vor Ort dienen sollte. Darin steht: „Wir Chinesen lebten friedlich nebeneinander bis […] Europäer [aus] niedrigsten Instinkten heraus europäische Missionare nach China sandten […] unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe.“ Den Antrag um Erlaubnis zum Verteilen hatte Xiè Wéijìn 謝唯進 (1900–1978) – mit dem Chéng Qíyīng einen gemeinsamen Sohn hatte – bei der Polizei in Göttingen eingereicht und unterzeichnet. Diese begann daraufhin mit der geheimen Observation der chinesischen Studierenden. 1933 musste Chéng Qíyīng Deutschland verlassen.
Xiè Wéijìn meldet in Göttingen seine Verantwortung für die Flugschrift, 25. Juni 1925.[Abb.7]
Göttingen – eine Kolonialmetropole?
Zahlreiche Initiativen haben sich in den letzten Jahren gegründet, um die koloniale Vergangenheit ganz unterschiedlicher Städte zu untersuchen. Sie alle sind von der Überzeugung getragen, dass die koloniale Vergangenheit Deutschlands bisher kaum in der Öffentlichkeit präsent ist.
Im Unterschied zu vielen ehemaligen Kolonien, in denen die Kolonialgeschichte bis heute sehr präsent ist, beginnen sich europäische Länder – und so auch Deutschland – erst nach und nach sehr zögerlich mit diesem Teil der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Der deutsche Kolonialismus hatte nicht nur für die Menschen in Afrika, Ozeanien und China Folgen, sondern auch in Europa, wo er Denk- und Gesellschaftsstrukturen formte, die teilweise bis heute nachwirken. Eine Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit Göttingens aus postkolonialer Perspektive kann deswegen dazu beitragen, Geschichte und Erinnerung kritisch zu hinterfragen und das Bewusstsein für heutige globale Machtungleichheiten zu stärken.
In Göttingen, das um 1900 nur knapp 30.000 EinwohnerInnen hatte, wuchs das Interesse am Kolonialen stetig und war seit der Jahrhundertwende in der Tat erheblich. Zahlreiche Angehörige des Göttinger Bürgertums, politisch konservativ, versammelten sich in den zeittypischen Vereinen, um sich über das Leben in den Kolonien zu informieren, Spenden für Auswanderinnen zu sammeln oder einen Kolonialkrieg zu unterstützen. Über 1.000 Menschen besuchten die vom Göttinger Frauenkolonialverein 1909 aufwendig inszenierte Kolonialausstellung, in der auch – so das Göttinger Tageblatt – „echte Neger“ zu sehen waren. Als in einer der wichtigsten deutschen Kolonien, in Deutsch-Südwestafrika, ein Krieg ausbrach, meldeten sich zahlreiche Soldaten aus dem Göttinger Regiment. Der Kolonialkrieg entwickelte nach und nach solche Strahlkraft, dass zu Ehren der gefallenen Mitglieder des hiesigen Regiments eines der ersten Kolonialdenkmäler im Deutschen Kaiserreich errichtet wurde. Dies alles spricht dafür, Göttingen als eine Stadt zu begreifen, die trotz ihrer geringen Größe in hohem Maße am Kolonialismus beteiligt war.
Besonderes Merkmal Göttingens ist die Universität. Als „Stadt, die Wissen schafft“ trug Göttingen bereits um 1900 zur Vermehrung und Verbreitung kolonialen Wissens bei – und zwar über alle Disziplinen und Fakultäten hinweg. Einige Wissenschaftler bereisten die Kolonien, um die Kolonialadministration zu unterstützen. Andere Professoren beschäftigten sich als Juristen, Biologen, Theologen oder Ethnologen mit kolonialen Themen in der Heimat. An die Tätigkeiten einiger, wie dem Geographen Hermann Wagner, wird bis heute mit einem Straßennamen erinnert.
Von Kira Engelke, Jennifer Frank, Thorben Langer, Maria-Frederika Mandt, Johannes Uhlig, Gabriel Walter, Andreas Weis sowie Rebekka Habermas, Karolin Wetjen, Lena Glöckler
Literaturhinweise
David Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge 2011.
Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, 2. Aufl., München 2012.
Ernst Dieterichs, Festschrift zum 4. Regiments-Apell des ehem. 2. kurhess. Inf.-Regts. Nr. 82 und zur Feier der Wiederaufrichtung des Infanterie-Regiments 82, Göttingen 1937.
Rebekka Habermas/Alexandra Przyrembel (Hg.), Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013.
Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003.
Rudolf von Thadden/Günter J. Trittel (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1898, Göttingen 1999.
Karolin Wetjen, Das Globale im Lokalen. Die Unterstützung der Äußeren Mission im ländlichen lutherischen Protestantismus um 1900, Göttingen 2013.
Ähnliche Artikel
http://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/Goettingen-kolonialadler.htm (Letzter Zugriff: 22.9.2020).
Abbildungen
[Abb1.] Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1911-07-09_Dr._med._Wilhelm_Riedel_Luftbildfotografie_Ballon_Hannover_Mittelpunkt_von_G%C3%B6ttingen,_Bildseite.tif?uselang=de (Letzter Zugriff: 25.2.2020). Urheber: Wilhelm Riedel, Lizenz: Public Domain (PD-Old, PD-US).
[Abb.2] Hedwig Rohns, Zwanzig Jahre Missions-Diakonissenarbeit im Ewelande, Bremen 1912. Urheberin Hedwig Rohns (Eigener Scan). Rechtlicher Hinweis: Die Urheberin ist seit über 70 Jahren tot. Es handelt sich demnach sehr wahrscheinlich um ein gemeinfreies Werk (Lizenz: Public Domain [CC0 1.0 Universal, PD-Old, PD-US]).
[Abb.3] Göttinger Tageblatt vom 3. Dezember 1902. Urheber: Ortsgruppe des Alldeutschen Verbands [Göttingen] und Deutscher Kolonialverband. Standort: Stadtarchiv Göttingen.
[Abb.4] Göttinger Tageblatt vom 28. Oktober 1909. Urheber: Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, Abteilung Göttingen. Standort: Stadtarchiv Göttingen.
[Abb.5] Foto: Privatbesitz von Merle Ayecke (2019).
[Abb.6] Volksblatt der Göttinger SPD, 6. April 1932, Urheber: SPD Göttingen. Standort: Stadtarchiv Göttingen.
[Abb.7] Xiè Wéijìn, Chinesischer Studentenverein Göttingen, 25. Juni 1925. Urheber: Xiè Wéijìn. Standort: Stadtarchiv Göttingen (Pol. Dir. Fach 124 Nr. 15 Bd. 2, Kontrolle der Ausländer, S. 35).