Was ist die Deutsche Kolonialschule?

Die Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe (kurz: DKS) wurde 1898 im nordhessischen Witzenhausen an der Werra gegründet. Ihr Kernziel war die Ausbildung ‚deutscher Kulturpioniere‘, das heißt von jungen Männern die später in den Kolonien als Landwirte, Wirtschafts- und Plantagenbeamte tätig sein sollten. Jene ‚Kulturpioniere‘ sollten nach ihrer Ausbildung in Teile der außereuropäischen Welt auswandern um dort ‚Pioniere‘ einer ‚deutschen Kultur‘ zu sein. Die DKS tritt zeitgenössisch als außeruniversitäre Institution auf, baut jedoch ihr inhaltliches Lehrangebot auf eine Kooperation mit Lehrenden der Universität und Fachpersonal aus dem Raum Göttingens auf. Dabei ist der Lehrkörper keineswegs auf den Raum Göttingen beschränkt.

Die Kolonialschule in Witzenhausen um 1910.[Abb.1]

Die Signifikanz Göttingens liegt in der geographischen Nähe zu Witzenhausen. Der Divisionspfarrer Ernst Albert Fabarius (1859–1927) gründete 1898, zusammen mit kolonialinteressierten Unternehmern und Vertretern des Hochadels, die DKS. Neben der Kolonialschule wurde zudem eine völkerkundliche Sammlung eingerichtet. Diese wurde aus Schenkungen Ehemaliger und Freunden stetig erweitert. Fabarius war als Geschäftsführer selbst Teil eines prokolonial gesinnten evangelisch-protestantischen Netzwerkes – Rheinischer Verband des Evangelischen Afrika Vereins. Aus diesem kamen zentrale Impulse zur Gründung der DKS

Im Gründungsjahr der DKS lernte Fabarius auf einer Englandreise das Konzept eines Colonial College in Harwich kennen und ‚kopierte‘ diesen Typ Ausbildungsstätte. Die Wahl zur Umsetzung fiel auf das ehemalige Kloster St. Wilhelmi in Witzenhausen, welches nach dem Vorbild des Colonial College erneuert und durch einen Anbau 1905 fertigstellt wurde. Ein wichtiger Anlass zur Gründung der DKS war der in den Kolonien beklagten Mangel an ausgebildeten Siedlern. Hier, in der Kolonialschule, sollten dementsprechend Männer ausgebildet werden, die christlich gesinnt, ethisch-moralisch gefestigt und praktisch in Landwirtschaft geschult werden sollten um koloniale Projekte vorantreiben zu können. Von 1908–1910 wurde auch eine koloniale Frauenschule in Witzenhausen eingerichtet. Frauen sollten in Übersee Männern eine hauswirtschaftliche Stütze sein, sowie Repräsentantin eines sittlichen Ehemodells.

Das Bild zeigt den 1905 fertiggestellten Anbau nach dem Stil eines Colonial Colleges.[Abb.2]


1899 wurden erste Lehrveranstaltungen abgehalten, die gleichermaßen theoretisches Wissen und praktische Anschauungen vermitteln sollten. Nach dem Lehrplan von 1900 wurden folgende Fächer gelehrt: Volkswirtschaftslehre, Organische Chemie, Pflanzenbau, Forstwirtschaftslehre, Tropengesundheit, Völkerkunde, Tierarzneikunde, Geologie, Botanik und Religionsgeschichte. Im Bereich der praktischen Übungen wurden wahlweise angeboten: Botanischer Ausflug, Laboratorium, Reiten, Handwerk, Baden, Landwirtschaft, Ausflug und Gärtnerei. Kollektive Übungen waren Gartenbau, Turnen und Schießen. Im Jahr 1924 – fünf Jahre nachdem Deutschland seine Kolonien verloren hatte– wurde schließlich das Kolonialkundliche Institut unter Leitung von Adolf von Duisburg als Teil der DKS gegründet. Ausgestattet mit heimatkundlichen und kolonialkundlichen Büchern, Zeitschriften, Diplomarbeiten und Fotografien bot es Studierenden und Außenstehenden die Möglichkeit spezifische Studienbereiche zu vertiefen und sich im Anschluss an die Ausbildung an der DKS auf etwaige koloniale Aktivitäten vorzubereiten. Trotz Verlust des deutschen Kolonialbesitzes 1919 blieb die DKS bis 1944 in Betrieb.

Veränderungen erfuhr der Inhalt des Unterrichts nur rudimentär, wie ein Lehrplan von 1930 anschaulich zeigt. Die praktischen Übungen sind mit denen aus dem Jahr 1900 in etwa gleich. Eine Fokussierung auf ‚rassentheoretische‘ Veranstaltungen zog sich durch die Lehrjahre der DKS. Somit bot die DKS auch ein Nährboden für ‚rassentheoretische‘ Überlegungen der Nationalsozialisten. Somit haben gesellschaftliche Veränderungen keinen grundsätzlichen Veränderungseffekt auf die DKS ausgeübt.

 

Wissenstransfer zwischen Göttingen und Witzenhausen

In der Universitätsbibliothek Göttingen findet sich ein Buch, verfasst von Ernst Albert Fabarius, mit dem Titel: Die Bedeutung der Deutschen Kolonialschule als Hochschule für das Deutschtum im Ausland. Schlägt man es auf, so ist dort Folgendes zu lesen: „Universitäts-Bibliothek Göttingen - Geschenkt aus dem Nachlass von D. Carl Mirbt - Professor der Kirchengeschichte, 1929.“[1]

Carl Mirbt war Theologe für das Fach Kirchengeschichte in Göttingen und hatte das Werk von Fabarius anscheinend privat erworben und später der Universität vermacht, und damit ein bis heute sichtbares Zeichen hinterlassen, wie  eine Form des Wissenstransfer zwischen Witzenhausen und Göttingen aussah.

Es gab freilich noch anderer Formen des Wissenstransfers. Bereits im Jahr 1900 lehrten gleich zwei Göttinger Universitätsprofessoren in der Kolonialschule: Hubert Jakob Esser (1843–1925), Dozent für Tierarzneikunde und Adolf von Koenen (1837–1915), Dozent für Geologie. In den folgenden Jahren gab es weitere Göttinger Professoren, die akademisches Wissen von Göttingen nach Witzenhausen brachten. Dabei blieb diese Form von Wissensvermittlung nicht auf den Hörsaal beschränkt: So belegen Akten des Archivs der ehemaligen DKS, dass im Jahr 1906 eine Witzenhausener Delegation nach Göttingen reisen sollte, um einem Vortrag von Koenen über die ehemalige deutsche Kolonie Deutsch-Südwestafrika beizuwohnen. Der Kontakt zwischen Fabarius und von Koenen blieb im kolonialen Kontext bestehen, nahm jedoch auch persönliche Züge an. 1910 fragte Fabarius bei von Koenen nach, ob sich dieser negativ über die koloniale Frauenschule geäußert hätte. Er, Fabarius, hätte die Information von Prof. Wohltmann erhalten. Fabarius bat daraufhin von Koenen vertraulich herauszufinden, welches Wissen in Göttinger Universitätskreisen über die koloniale Frauenschule bestand, da das schlechte Image auch auf die DKS übergreifen könnte. Hier zeigt sich, dass man sich zwischen Göttingen und Witzenhausen nicht nur über Akademisches austauschte.

Auch Carl Mirbt (an der DKS 1910 - 1927) kann als Beispiel genannt werden. Während seiner Zeit an der Georgia Augusta hielt Mirbt an der DKS – sowie an der Universität Göttingen – Vorlesungen über Missionskunde und Kolonialpolitik und trug somit seinen Teil zur Produktion eines religiös  strukturierten kolonialen Weltbildes bei. Wie bei von Koenen zeigt sich auch in den Korrespondenzen zwischen Fabarius und Mirbt eine private Verbindung. Ein Beispiel: Fabarius fragt Mirbt, ob dieser wisse, in welchem Umfang Mischehen zwischen deutsch-evangelischen Missionaren und ‚eingeborenen Frauen‘ vorkämen.


 

Brief von Fabarius an Carl Mirbt, in dem er diesen um Informationen bezüglich Mischehen zwischen evangelischen Missionaren und „eingeborenen Frauen“ (Schriftsprache) in verschieden Missionsgebieten bat.[Abb.3]

 

Ein weiteres Beispiel: Fabarius schreibt Mirbt 1914, dass es ein kleines Fest in der DKS gäbe und lädt die Tochter Mirbts ein an diesem Fest teilzunehmen. Er besteht darauf, dass diese in der Privatwohnung von Fabarius und seiner Frau während des Festes wohnen solle. Diese Beispiele zeigen, dass die DKS ein Dreh- und Angelpunkt für akademischen und für privaten Wissenstransfer war - ein Austausch, der getragen war von einen gemeinsamen kolonialen Interesse.

Ein weiterer Göttinger Gelehrter in Witzenhausen war von 1905–1931 Moritz Büsgen. Von 1915–1921 war dieser Lehrbeauftragter für Botanik an der Universität Göttingen. Er wurde von Fabarius für Vorlesungen an der DKS mit folgender Argumentation geworben: Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Erforschung von sogenannten ‚Urwaldbeständen' in den deutschen Kolonien sei es vor dem Hintergrund der zukünftigen Nutzung von Bäumen und Pflanzen (zum Beispiel Kautschuk) wichtig, diese wissenschaftlich zu erforschen und das Wissen an die junge Generation weiterzugeben. Moritz Büsgen ist bis heute an der Universität Göttingen eine bedeutende Persönlichkeit. Neben einer Straßenbenennung existiert noch das an die Forstwissenschaftliche Fakultät angeschlossene Büsgen-Institut.

Auch der Gartenbauinspektor des Königlichen botanischen Gartens, heute: Alter Botanischer Garten, Carl Bonstedt, hielt ab 1920 an der DKS Vorlesungen und Übungen im Themenbereich ‚Gartenbaulehre‘.. In regelmäßigen Abständen unterrichtet Bonstedt in Witzenhausen über kolonialen Obst- und Gemüseanbau. Auch die Theorie des (kolonialen) Gartenbaus ist Grundpfeiler seiner Lehre. In Witzenhausen wurde 1922 ein heute nicht mehr erhaltender sogenannter ‚Heldenhain‘ – dessen Umsetzung Bonstedt vornahm – gebaut. Bonstedt tritt anders als Büsgen und Mirbt nicht aus einer genuinen universitären Position in Witzenhausen auf. Ohne Doktortitel und Professorenstelle ist Bonstedt an einer Göttinger Institution angestellt und gibt Lehrveranstaltungen an der Universität.

Für Göttingen und Witzenhausen war Wilhelm Arning als zweiter Direktor der DKS besonders bedeutend. Ab 1923 war Arning Ehrenmitglied der Georgia Augusta und ab 1927 Direktor der DKS. Er hielt Vorlesungen über Tropengesundheitslehre. In den 1920er Jahren trat er massiv für die Rückgewinnung der Kolonien ein. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich gerade Arning als Ehrenmitglied der Göttinger Universität und Direktor der DKS für ein Institut für Koloniale Landwirtschaft einsetzte, welches im Wintersemester 1940 feierlich in Göttingen eröffnet wurde. In diesem sollte für Abgänger der DKS die Möglichkeit bestehen ihr koloniales Wissen in einem Studiengang zu vertiefen.

Für alle Beispiele gilt: Von Witzenhausen sollte das Wissen ‚in die Welt‘ gehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Wissenstransfer fluide ist, das heißt nicht auf die Vermittlung im Hörsaal beschränkt ist. Kolonialwissenschaftliche, sowie populäre koloniale Themen wurden auch außerhalb des Hörsaals diskutiert.

 

Transfer von ‚Wissen aus der Welt’ nach Witzenhausen

In sogenannten ‚Kammeradenbriefen‘ berichteten ehemalige Kolonialschüler über ihre Eindrücke und Erlebnisse in den ehemaligen deutschen Kolonien und aus anderen Teilen der außereuropäischen Welt. Abgedruckt im Publikationsorgan Der Deutsche Kulturpionier wurden diese Briefe öffentlich gemacht. Aus ihnen geht hervor, dass besonders Fragen der Bodenbeschaffenheit (Geologie), der Pflanzungen (Botanik) und der Tierzucht von Bedeutung waren. So schreibt ein ehemaliger Kolonialschüler im Jahr 1907 aus Meruni in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika nach Witzenhausen und berichtet neben seinen Eindrücken von der Reise und seinen Eindrücken vom Land auch über die Bodenbeschaffenheit. Dieses Wissen wurde in gedruckter Form in Witzenhausen verwahrt und diente zukünftigen Kolonialschülern zur Produktion eines spezifischen ‚Afrikabildes‘ sowie als ‚Wissensquelle‘ für koloniale Bodenkultivierungsarbeiten in naher Zukunft.

Aber nicht nur immaterielles Wissen gelangte nach Witzenhausen, sondern auch materielle Artefakte. So schrieb ein ehemalige Kolonialschüler, er werde mit dem nächsten Dampfschiff ein Paket für die völkerkundliche Sammlung abschicken, welches Kokosnussschößlinge und etliche Pflanzensamen enthielt. Es ist wahrscheinlich, dass diese Objekte noch heute ihren Platz in der um 1900 gegründeten Sammlung haben.

 

Zum Umgang mit der Geschichte

Nach der Schließung der DKS wurden die Räumlichkeiten dem örtlichen Krankenhause zugeteilt. Im Jahre 1957 wurde das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (kurz DITSL) gegründet. Die Entwicklung neuer weltweiter Landnutzungssysteme auf transdiziplinärer Art und Weise wird als Schwerpunkt gesetzt. Dieser Gegenstand wird vor dem Hintergrund einer postkolonialen Kritik an Formen und Praktiken der Entwicklungshilfe insgesamt von postkolonialen AkteurInnen kritisch begleitet. Seid einigen Jahren setzten sich Studierende vermehrt kritisch mit der DKS als Vorgänger des DITSL auseinander, was zum einen durch häufige Beschmierungen der Fabarius-Büste im Innenhof des DITSL sichtbar wird und zum anderen durch das Anbringen einer Informationstafel neben der Fabarius-Büste. Diese soll eine bereits bestehende Informationstafel, welche von einigen Studierenden als zu neutral und nicht den Kern treffend verstanden wurde, ergänzen.

Das Bild zeigt die Büste von Ernst Albert Fabarius. Unter dem Sockel steht klar erkennbar mit roter Farbe "Rassist".[Abb.4]

Ein Angebot postkolonialer Stadtrundgänge in Witzenhausen sowie in jüngster Vergangenheit zwei Veröffentlichungen stehen für einen kritischen Umgang mit der Geschichte: Einerseits entstand innerhalb eines Seminarprojektes eine Untersuchung der kolonialen Vergangenheit der DKS im Comic-Stil. Anderseits wurde die Provenienz (Herkunft) eines menschlichen Schädels im Bestand des ‚völkerkundlichen‘ Museums als Teil der ehemaligen DKS ‚aufgedeckt’. Gerade dies sind Anfänge einer Aufarbeitung kolonialer Geschichte, dieser bis 1908 einzigen deutschen Kolonialschule, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

 

Von Kilian Knop

 

 

Literaturhinweise:

Karsten Linne, Von Witzenhausen in die Welt. Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898 bis 1971, Göttingen 2017.

Esaïe Djomo, Eine Bildungsstätte für Kulturpioniere ohne Betätigungsfeld. Die Deutsche Kolonialschule zu Witzenhausen an der Werra in der Weimarer Republik, in: Sven Halse (Hg.), Worte, Blicke, Träume. Beiträge zum deutschen Kolonialismus in Literatur, Fotografie und Ausbildung, München 2007, 165–187 ( Text & Kontext, Bd. 53).

Torben Gülstorff, Vom Wilhelmshof in die Fremde. Einblicke in die Lehre vom Eigenen und Fremden an der Kolonialschule Witzenhausen. Ansätze eines interkulturellen Lernens?, Budapest 2011.

Eckhard Baum, Daheim und überm Meer. Von der Deutschen Kolonialschule zum Deutschen Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen, Witzenhausen 1997.

 

Informationen zu den Vertretern des Lehrpersonals in Witzenhausen stammen gemeinschaftlich aus den wenig beleuchteten Personalakten des Archivs der ehemaligen Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen.

Informationen zu den Erfahrungen und Erlebnissen ehemaliger Kolonialschüler in Übersee sind der Zeitschrift Der Deutsche Kulturpionier entnommen. Vornehmlich aus den Jahrgängen 1900, 1907 und 1930.

 

Weiterführende Informationen:

(NEU) Multimediale Reportage des Hessischen Rundfunks – Perspektivenwechsel. Witzenhausen und sein koloniales Erbe https://www.special.hr2.de/perspektivenwechsel-witzenhausen-und-sein-koloniales-erbe#9211  (Stand: 2020)


[1] Ernst Albert Fabarius, Die Bedeutung der Deutschen Kolonialschule als Hochschule für das Deutschtum im Ausland, [Witzenhausen 1921]. Die Widmung befindet sich auf der Rückseite des Einbandes vom Exemplar mit der Göttinger Signatur: H. Haas. Nass.


 Abbildungen

[Abb.1] Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutsche_Kolonialschule_Wilhelmshof.jpg (letzter Zugriff: 14.4.2020). Urheber: Michael Gräber, Lizenz: Public Domain (PD-Old, PD-US).

[Abb.2] Foto: Privatbesitz von Kilian Knop (2019).

[Abb.3] Personalakte Carl Mirbts, DITSL Archiv Witzenhausen. Fotografiert von Kilian Knop (2019). Rechtlicher Hinweis: Eine Nutzungsgenehmigung des DITSL Archivs Witzenhausen liegt vor.

[Abb.4] Foto: Privatbesitz von Kilian Knop (2019).