Vor 100 Jahren (Stand 2020) immatrikulierten sich die ersten sieben chinesischen Studenten an der Universität Göttingen. Alle sieben hatten vorher an der Deutschen Medizinschule in Shanghai studiert, der heutigen Tongji-Universität, die 1907 gegründet worden war. Unter ihnen stammten darüber hinaus drei, die Brüder Chén Zuòjì 陈作纪 (1896–1981) und Chén Zuòshēng 陈作生 (1900–?) sowie Yú Shàoqìng 于绍庆 (1898–1980), aus der Provinz Shāndōng 山东, zu der die geradeerst verlorene deutsche Kolonie „Kiautschou“ (Chinesisch: Jiāozhōu 胶州) mit der Hafenstadt Qīngdǎo 青岛 gehörte. In diesem Wintersemester 1920 schien die Zukunft der ehemals deutschen Stadt ungewiss. Im Versailler Vertrag hatten die USA, England und Frankreich die deutsche Kolonie dem Japanischen Kaiserreich zugesprochen, anstatt der chinesischen Forderung nach einer Rückgabe zu entsprechen. Gerade in der chinesischen Studentenschaft machte sich darüber Unmut breit. Aus ihr gingen ab 1919 Bewegungen hervor, die China bis heute prägen sollten. Ganz gleich ob auf dem Festland oder auf den Inseln Macao, Hongkong und Taiwan, die Kolonialgeschichte ist identitätsstiftend für das heutige China.
Die Provinz Shāndōng und ihre Bedeutung
1897, formell 1898, richtete sich die deutsche Marine nicht einfach irgendwo ein – wie auf einer fast unbesiedelten Insel –, sondern eben in der Provinz Shāndōng: der Heimatprovinz von Konfuzius (Kǒngzǐ 孔子), einem der zentralen Ursprungsorte chinesischer Migrationsströme, einer der Kornkammern des Kaiserreiches, Ausgangsort des maritimen Handels zwischen China, Korea und Japan und eine der am dichtesten besiedelten Regionen Chinas. Dort gilt sie oftmals sogar als Geburtsort der chinesischen Kultur. Dazu verhalf ihr auch der Umstand, dass sie im Grunde seit der Zhōu-Dynastie (1046–256) ständig innerhalb der Grenzen des jeweiligen Kaiserreiches blieb. Daher verwundert auch nicht die Liste bedeutender Persönlichkeiten, die ihr entstammen. Konfuzius wurde dort 551 v.Chr. im damaligen Staate Lǔ 鲁 geboren und Mencius (370–290) im Staate Zōu 邹. Aus Jǐnán 济南, der Hauptstadt der Provinz, stammte die berühmte Dichterin Lǐ Qīngzhào 李清照 (1084–1155).
Von besonderer Bedeutung war der Láoshān 崂山. Auf diesem Berg, der sich später innerhalb des deutschen Pachtgebietes wiederfinden sollte, befindet sich einer der historisch wichtigsten daoistischen Tempel, der Tàiqīng Gōng 太清宫, dessen Erbauung auf 140 v.Chr. datiert wird. Während der Yuán-Dynastie wurde dieser zu einem zentralen daoistischen ‚Wallfahrtsort‘, und während der Míng-Dynastie soll hier Pú Sōnglíng 蒲松龄 (1640–1715) die berühmte Märchensammlung „Liáozhāi Zhìyì 聊斋志异“ verfasst haben. Ähnlich wie die Göttinger Professoren, den Gebrüdern Grimm, reiste er durch Shāndōng, um mündliche Überlieferungen schriftlich festzuhalten. In Europa kennt man diese heute vor allem durch chinesische Kinofilme. In China war das Werk hingegen für die Literatur thematisch sowie stilistisch von enormem Einfluss; ganz zu schweigen von seinem identitätsstiftenden kulturellen Wert.
Der Tàiqīng Gōng als Ausflugsort während der Kolonialzeit.[Abb.1]
Im späteren deutschen Stadtgebiet von Qīngdǎo lagen vor der Einnahme neben dem gleichnamigen größeren Dorf mehrere kleinere Dörfer sowie ein Fischerdorf. Das Dorf Qīngdǎo war erst 1891 vom Guāngxù Kaiser (光绪帝) gegründet worden. Im gesamten Pachtgebiet Jiāozhōu existierten jedoch 275 Dörfer mit insgesamt ca. 100.000 EinwohnerInnen. Bis 1913 sollte sich diese Zahl mehr als verdoppeln. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus kleinbäuerlichen Familien, die mitunter Weizen, Hirse und Süßkartoffeln anbauten. Die Dörfer, die auf dem ins Detail geplanten deutschen Stadtgebiet lagen, wurden nach deutscher Ankunft dem Erdboden gleich gemacht. Bei einigen wurde sogar die Erde abgetragen, da man in den chinesischen Dörfern den Grund eines Typhusausbruches unter der deutschen Bevölkerung sah. So wundert es nicht, dass die deutsche Präsenz massiv auf Ablehnung stieß und zur weiteren Destabilisierung und Delegitimierung des chinesischen Kaisertums beitrug, das sich zunehmend als machtlos offenbarte. Dies war zwar keine deutsche Intention, doch die wirtschaftlichen, militärischen und symbolischen Interessen führten zu einer gewissen Naivität gegenüber den Folgen des eigenen Handelns.
Deutsche ‚Musterkolonie‘, Festungsbau und ‚Einflusssphäre‘
Seit den 1860ern erwog man in Preußen bereits den Erwerb von Kolonialgebiet in China und spätestens 1872 kam mit der Empfehlung Ferdinand von Richthofens (1833–1905) die Bucht von Jiāozhōu ins Gespräch. Die Frage der geografischen Lage der zukünftigen Kolonie sollte allerdings noch lange offenbleiben. Noch 1894 bevorzugte Wilhelm II. (1859–1941) selbst die Insel Taiwan. Nach längeren Vorbereitungen, zu denen Händler und Missionare mit ihren eigenen Forderungen beitrugen, nutzte man die Ermordung zweier Missionare als Rechtfertigung für die unangekündigte Besetzung der Bucht von Jiāozhōu und stellte die chinesische Regierung vor vollendete Tatsachen.
Während die Kolonie in Literatur und Reiseberichten anschließend als Vorzeigeobjekt, „Musterkolonie“ und Insel des „Deutschtums“ mythisiert wurde, ging es selbstredend auch um wirtschaftliche Interessen. Die Vorstellung der wirtschaftlichen Rentabilität von Pachthäfen basierte vor allem auf der Beobachtung der 1841–1843 etablierten britischen Kolonie Hongkong und veralteten Bildern vom Potenzial des chinesischen Marktes, die den destruktiven Effekt der wirtschaftlichen Krise unterschätzten. Aber gerade der Kohlereichtum der Region sollte über die wirtschaftlichen Erwägungen hinaus auch die Kriegsmarine stützen. Schlussendlich erwies sich jedoch die Kohle als qualitativ minderwertig und die Kolonie als wirtschaftlich unrentabel. Bis 1914 investierte das Deutsche Kaiserreich 200 Millionen Reichsmark – mehr als in jede andere Kolonie –, war jedoch am Handel in der eigenen Kolonie weniger beteiligt als Japan, England oder die USA. Die hohen Kosten hingen auch damit zusammen, dass das Reichsmarineamt Qīngdǎo als Prestigeobjekt aufbauen wollte; aus Konkurrenz sowohl zu anderen Kolonialmächten als auch zum landeseigenen Kolonialamt, das sonst für die Verwaltung der ‚Schutzgebiete‘ zuständig war. Doch diese ‚Aufbaupolitik‘ war mitnichten altruistisch. Beispielhaft klingt heute ironisch nach, dass Chinas erster umfassender Gesetzesentwurf zum Markenschutz 1904 aufgrund deutschen Einspruches gescheitert war. Man fürchtete nämlich eine wirtschaftliche Benachteiligung des Handelsstandortes der Kolonie und eine „ungerechte“ Bevorzugung Japans.[1] Bis zum Ende blieb ‚Kiautschou‘ eine „Zuschusskolonie“. August Bebel (1840–1913) schlug deshalb sogar vor, die Kolonie an Japan zu verkaufen, das tatsächlich den größten Nutznießer darstellte. Hier zeigt sich erneut, dass die wirtschaftliche Rolle Deutschlands für China eher marginal war. Die für den wirtschaftlichen Aufschwung der Provinz ausschlaggebenden Beziehungen mit Japan hätten sich wohl mit oder ohne deutsche Kolonie weiter intensiviert.
Die Bevölkerung in Qīngdǎo selbst blieb zum größten Teil chinesisch. Ähnlich wie in Afrika wurde Recht zwischen Kolonialisierten und Kolonialherren schon formell ungleich gesprochen. Man argumentierte bei der Begründung gerne mit vermeintlichen chinesischen Rechtstraditionen. Sowohl die Zuständigkeiten und Verfahren als auch Strafmaße unterschieden sich zwischen ChinesInnen und EuropäerInnen. JapanerInnen und AmerikanerInnen waren vorm Gesetz den EuropäerInnen hingegen gleich. Zu der rechtlichen gesellte sich die lokale Trennung. Typischerweise war das Stadtgebiet überwiegend eine Männerwelt. Dies galt zwar durchweg für alle gesellschaftlichen Gruppen, zeigte aber ein besonderes Machtgefälle zwischen deutschen Männern und chinesischen Frauen. So wurde Prostitution von der Stadtverwaltung kontrolliert und gefördert, um die Zahl illegaler sexueller Übergriffe, auch auf Minderjährige, zu mindern und die häufigste Art von Erkrankungen, die Geschlechtskrankheit, in den Griff zu bekommen. Seit 1899 mussten Prostituierte polizeilich registriert werden und sich wöchentlich ärztlich untersuchen lassen. Wer als ansteckend krank befunden wurde, durfte in das einzige Marinelazarett, das sowohl Deutsche als auch Chinesinnen aufnahm.[2] An diesem Beispiel zeigt sich, dass die sonst eher strenge und kleinlich vom Reichsmarineamt geplante Segregation zwischen Deutschen und ChinesInnen Brüche aufwies, sofern praktische Gründe dagegensprachen. Während das Europäerviertel wegen des schönen Meerblicks am Südhang lag und das Chinesenviertel am Nordhang, kam es im Lauf der Jahre immer mehr zu einer Vermengung beider. Denn auf der einen Seite schien die Segregation hinderlich für Handelsbeziehungen, auf der anderen Seite herrschte gelegentlich simpler Platzmangel.
Die Schantung-Eisenbahn
Der Bau einer Eisenbahnlinie war bereits eingeplant, bevor deutsche Truppen bei Qīngdǎo gelandet waren. Diese Linie sollte den Hintergrund zahlreicher Konflikte bilden, die auch militärische Auseinandersetzungen wie den „Boxerkrieg“ schürten. In erster Linie sollte der Bau Qīngdǎo als Handelsposten stärken und eine deutsche Durchdringung der gesamten Provinz begünstigen. Er ermöglichte die sogenannte „Einflusssphäre“. Während der Artikel I von Teil II des von deutscher Seite diktierten Pachtvertrages zwei Eisenbahnlinien bestimmte, sicherte Artikel IV im Bereich von bis zu 15 Kilometern Abstand von der Bahnlinie die Ausbeutung aller Kohlevorkommen sowie die Ausführung von Unternehmungen zu. Dies galt insbesondere für die an der Bahnlinie liegenden Städte. Teil II sicherte zusätzlich deutsche Prioritätsrechte zum Nachteil aller anderen ausländischen Mächte für die gesamte Provinz. Die Linien Qīngdǎo-Wéixiàn 潍县 (heute Wéifāng 潍坊)-Jǐnán-Dézhōu 德州 und Qīngdǎo-Yízhōu 沂州 (heute Línyí 临沂)-Jǐnán hätten die Grenzen Shāndōngs im Grunde in allen vier Himmelsrichtungen miteinander verbunden. Nur die erste Linie wurde allerdings fertiggestellt, was immerhin eine Durchquerung von Ost nach West sicherstellte.
Karte der Kolonie mit Verlauf der Schantung-Eisenbahnlinie.[Abb.2]
Durch die Schantung-Eisenbahn und die mit ihrem Streckenverlauf vereinbarten Privilegien stellte sich die Kolonie Jiāozhōu anders dar als z.B. Togo, da die Karten die Intensität der deutschen Durchdringung Shāndōngs verschweigen, anstatt sie zu imaginieren. Gerade der Kohleabbau wurde von deutschen Unternehmern forciert und führte zu Spannungen, die dann auch für Chinas Kriegserklärung im ersten Weltkrieg von Bedeutung waren. Der chinesische Premierminister Duàn Qíruì (1865–1936) führte sein eigenes finanzielles Vermögen und das seiner Familie nämlich unter anderem auf den Kohleabbau zurück. Hier stand er in Konkurrenz zu den deutschen Unternehmen in Shāndōng und insbesondere zu der deutschen Ching Hsing Minen GmbH (Jǐngxíng Méikuàng Jú 井陉煤矿局). Ihr Leiter Constantin von Hanneken (1854–1925) wurde mit der Kriegserklärung von 1917 aus China ausgewiesen und Duàn Qíruì konnte sich damit weitere Kohleminen sichern. Als 1922 Duàn Qíruìs politische Macht mitunter wegen der ihm angelasteten negativen Folgen des Versailler Vertrages abnahm, gelang es Hanneken die Enteignung teilweise revidieren zu lassen.
Die christliche Mission
Schon vor der Eisenbahn hatten sowohl katholische als auch protestantische Missionsgesellschaften die Provinz Shāndōng durchdrungen. Einig im Ziel der Verbreitung des Christentums stellten sie eine Verbindung zwischen China und Deutschland her, die den Kolonialismus vorbereitete und stützte, auch wenn sie seine Form durchaus kritisch sahen. Seit den „Opiumkriegen“ (1839–1841, 1856–1860) genossen Missionare entscheidende Privilegien bei ihrer Arbeit vor Ort. Aber auch Chinesen sahen in der Mission ein Instrument, eigene politische Restriktionen zu überwinden. Vom Historiker Wolfgang Reinhard als „(Pseudo-)Christen“ bezeichnete Chinesen begannen politische Machtkämpfe und Aufstände, während die tradierten Eliten zunehmend aggressiv auf die Missionare und vermeintlichen Konvertiten reagierten.[3] Auf deutscher Seite nutzte man die Unruhen wiederum, um die eigene Machtstellung zu vergrößern, und intervenierte militärisch. Zu den verhängnisvollsten Unruhen zählten der Taiping-Aufstand (1851–1864) und der ‚Boxerkrieg‘ (1900–1901). Letzterer endete mit brutalen deutschen ‚Strafexpeditionen‘.
Zu Berühmtheit gelangte ein Missionar des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins, später in Deutsche Ost-Asien Mission (DOAM) umbenannt, Richard Wilhelm (1873–1930). Er konvertierte selbst stärker zum Konfuzianismus, als dass er andere zum Christentum bekehrte. Dies brachte ihm viel Anerkennung in China und unter seinen StudentInnen ein, die er ab 1925 an der Universität Frankfurt a.M. empfing. Auch wenn er den Kolonialismus per se nicht strukturell verurteilte – so sei er in Afrika durchaus angebracht, doch „in China trat die Mission nicht einer schwächeren oder weniger entwickelten Kultur gegenüber“ –, verhalf ihm seine Sinophilie zu einer Anerkennung der kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen des ‚Westens‘ und ‚Ostens‘ als ebenbürtig.[4] Ihm gegenüber aber standen zumeist Personen wie der Leiter der DOAM, Johannes Witte (1877–1945), die ihren Missionsauftrag als eine Art ‚Rettung‘ für notwendig erachteten, den Kolonialismus beschönigten und nach dem ersten Weltkrieg für die Rückgewinnung der Kolonien plädierten.
Auswirkungen der Xīnhài-Revolution (Xīnhài Gémìng 辛亥革命)
Ein entscheidendes Ereignis für die Kolonie war die Xīnhài-Revolution 1911. Mit zunehmendem Ausverkauf von Ländereien sowohl an europäische Mächte als auch an Japan war die Unterstützung des chinesischen Kaisertums nicht nur in der Bevölkerung gesunken, sondern – viel ausschlaggebender – auch im Militär. Die späten, wenn auch radikalen Reformen konnten daran nichts mehr ändern. Der Revolution von 1911 folgte die Abdankung der letzten Dynastie. Aufgrund der Verbindungslinie durch die Schantung-Eisenbahn und der fehlenden Jurisdiktion der Revolutionäre vor Ort bevorzugten viele ‚Konservative‘ das Exil in Qīngdǎo. So wurde die Stadt zwischen 1912 und 1914 zu einem Tummelplatz ehemals hoher Beamter und kaisertreuer Intellektueller.
Richard Wilhelm profitierte von dieser ehemaligen Bildungselite. Im Austausch mit ihnen entwickelte er zahlreiche Übersetzungen chinesischer Klassiker. Auch der Philosoph Hermann Keyserling (1880–1946) konnte sich in Qīngdǎo diesem Milieu anschließen. Aus dieser Erfahrung heraus gründete er 1919 die sogenannte Schule der Weisheit an der Universität Darmstadt. Im Studium beider entwickelte auch der Göttinger Professor Leonard Nelson (1882–1927) seine philosophischen Anschauungen. Alle drei zeigten sich dabei als Unterstützer des zeitgenössischen chinesischen Philosophen Gū Hóngmíng 辜鸿铭 (1857–1928) und trugen zu seiner Bekanntheit außerhalb Chinas bei. Keyserling, Wilhelm und Nelson gehörten zu den wenigen Europäern dieser Zeit, die davon überzeugt waren, dass man in der Geschichte Chinas und seinen Denkmustern Antworten für die politischen Probleme der Weimarer Republik finden könnte. Dieses intellektuelle Netzwerk, bedingt durch die Revolution und die Besetzung Qīngdǎos, begünstigte einen chinesisch-deutschen Austausch, der auch außerhalb der Sinologie von wissenschaftlicher Bedeutung war.
Die japanische Expansion
Wie bereits dargelegt, standen die deutschen Interessen in Shāndōng im ständigen Konflikt mit Japan. Während Japan lange Handelsbeziehungen mit der koreanischen Halbinsel und der Provinz Shāndōng pflegte, bedurften die Meiji-Reformen einer nach innen gerichteten nationalen Erneuerung. Dabei hatte man sich auch am 1871 so erfolgreich gegründeten Deutschen Kaiserreich orientiert. Es begann eine Hochphase der deutsch-japanischen Beziehungen. Als sich Japan wieder nach außen wandte und eine Politik der Expansion anstrebte, intervenierte 1895 dieses vorher noch so weit entfernte Deutsche Kaiserreich plötzlich – aber nicht ganz unerwartet – bei den Friedensverhandlungen mit China und verhinderte den Erwerb von Liáodōng 辽东 als japanische Kolonie. Nur drei Jahre später erwarb es mit Jiāozhōu selbst Kolonialgebiet in der Region. Tatsächlich waren die eigenen kolonialen Planungen Grund für die deutsche Intervention. Dementsprechend sehnte man in Japan, auch in der Öffentlichkeit, einen „Tag der Rache“ herbei. 1914 sah man dann die Gelegenheit, die deutsche Kolonialmacht aus Ostasien zu vertreiben. Am 15. August des Jahres erklärte man Deutschland den Krieg und bereits nach wenigen Monaten, am 7. November, sah sich die deutsche Garnison gezwungen, die Kapitulation zu unterzeichnen. Die 4.000 Verteidiger hatten den im Russisch-Japanischen Krieg von 1905 kampferprobten 65.000 Soldaten wenig entgegenzusetzen. Zu sehr beruhte der Festungsbau auf Vorstellungen der Kriegsführung des 19. Jahrhunderts. Japan verlor 600 Mann im Austausch für Jiāozhōu, die Karolinen sowie die Marianen und Marshall Inseln.
Zusammen mit der Seeschlacht bei Tsushima 1905 und dem Fall der Festung Singapur 1942 gelang es Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, drei europäische Kolonialmächte militärisch zu schlagen. Den militärischen Erfolg in Qīngdǎo wollte sich Japan auch vertraglich zusichern lassen. So gelang es zwei Mal, eine chinesische Kriegserklärung an das Deutsche Kaiserreich zu verhindern, da man fürchtete, dass China als formelle Siegermacht Rückgabeforderungen stellen könnte. Die Furcht war unbegründet. Denn auch wenn China am Ende am Verhandlungstisch saß, der Vertrag von Versailles war ein amerikanisch-europäisches Werk, das dessen Forderungen ignorierte. Die chinesische Delegation verweigerte aufgrund der „Qīngdǎo-Frage“ die Unterzeichnung. Erst durch verschiedene bilaterale Verträge von 1921 konnte das ehemals deutsche Pachtgebiet an China zurückgegeben werden. 1937 eroberte Japan es erneut.
Vom Pachtvertrag zum „Freundschaftsvertrag“
In China werden die ersten Verträge zwischen den Kolonialmächten und dem chinesischen Kaiserreich aus guten Gründen als „ungleiche“ Verträge bezeichnet. Darunter der deutsche Pachtvertrag sowie das „Boxerprotokoll“ (1901). Doch auch der erste „gleichberechtigte“ Vertrag, „Der deutsch-chinesische Vertrag zur Wiederherstellung des Friedenszustandes“ (1921), auch „Freundschaftsvertrag“ genannt, sendete ein trügerisches Signal. Er verstärkte die in China verbreitete Auffassung, dass man im besiegten Deutschland der Weimarer Republik einen gleichberechtigten Partner im Westen finden würde. Zum Teil ist auch damit der neue Andrang chinesischer StudentInnen an deutsche Universitäten in den 1920er Jahren zu erklären. Doch der dort herrschende Kolonialrevisionismus widerlegte die illusorischen Vorstellungen der chinesischen Studierenden und engte die Handlungsräume ein, die den chinesisch-deutschen Beziehungen womöglich offen gestanden hätten.
In diesem Kontext ist auch die Dissertation zu verstehen, die der 1898 in der deutschen Kolonie geborene Sūn Fāngxī 孙方锡 (1898–?) an der Universität Jena 1931 mit einem Plädoyer gegen den Kolonialismus abschloss: „Ist es unbedingt nötig, daß man in einem fremden Lande eine Herrschaft des eigenen Volkes über ‚Eingeborene‘ aufrichten muß? Nein! Die Welt ist ein gemeinsamer Besitz. Also muß kein Volk dem anderen unterstehn. Alle Völker haben dasselbe Recht, nach ihrer Art und Weise auf der Welt neben den anderen zu leben. […] Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Auslandschinesen eine Quelle der ‚gelben Gefahr‘ seien […]. Wenn die Chinesen nicht unter dem Joch der Fremdherrschaft, also einer ‚weißen Gefahr‘ zu jammern brauchten, würden sie bestimmt sehr froh sein.“[5] Es mag also nicht verwundern, wenn man heute in China einerseits Qīngdǎo – genauso wie einige andere Städte entlang der ehemaligen Schantung-Eisenbahn – zwar als hübsches architektonisches Kolonialerbe touristisch vermarktet und „1903“ auf jeder Bierflasche der Tsingtao-Brauerei – einer deutsch-englischen Gründung – thront, andererseits aber vom „Zeitalter der nationalen Demütigung“ spricht und sich in der Diplomatie jegliche äußere Einmischung in „chinesische Angelegenheiten“ strengstens verbietet. Dies mag auch durchaus seine Berechtigung haben, erfüllt heute aber ebenso politische Zwecke – ein „chosen trauma“, wie es der Politologe Wang Zheng beschrieb, statt der in Europa zu beobachtenden kolonialen Amnesie.[6]
Das Fangtze Eurotown, ein architektonischer Überrest der deutschen Kolonialherrschaft in Wéifāng. 2008 explizit „als Grundlage für die patriotische Volksbildung“ aufwendig restauriert.[Abb.3]
Von Andreas Günter Weis
Literaturhinweise
Hans-Martin Hinz und Christoph Lind, Tsingtau. Ausstellung im Deutschen Historischen Museum vom 27. März bis 19. Juli 1998. Auf diesen Internet-Seiten finden Sie die Online-Veröffentlichung des Ausstellungskataloges. Dieser enthält vor allem Aufsätze zum Thema. https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/tsingtau/katalog/Inhalt.htm (Letzter Zugriff: 24.3.2020).
Yixu Lü, Tsingtau, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M. 2013, 208–227.
Klaus Mühlhahn, Making China Modern. From the Great Qing to Xi Jinping, London 2019.
Gen Pei 根 裴, Qingdao Badaguan 青岛八大关: Lishi Wenhua Jiequ Yanjiu 历史文化街区研究. Qingdao 青岛: Zhongguo Haiyang Daxue Chubanshe 中国海洋大学出版社 2012.
Angela Schottenhammer, The ‚China Seas‘ in World History. A General Outline of the Role of Chinese and East Asian Maritime Space from its Origins to c. 1800, in: Journal of Marine and Island Cultures 1, Nr. 2 (2012), 63–86.
Fion Wai Ling So, Germany's Colony in China.Colonialism, Protection and Economic Development in Qingdao and Shandong, 1898–1914, London/New York 2019.
[1] Harald Fuess, Das Ringen um staatliche Souveränität und das Wirtschaftsrecht des Stärkeren: Europa und der Markenschutz in Japan und Ostasien, 1884–1923, in: Zeitschrift für Japanisches Recht Sonderheft 9 (2018), 36, 42.
[2]Klaus Mühlhahn, Prostitution in der ‚Musterkolonie‘ Kiautschou, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Mechthild Leutner (Hg.), Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009, 97f.
[3] Wolfgang Reinhard, Der Missionar, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M 2013, 289.
[4] Richard Wilhelm, Die Seele Chinas, Berlin 1926, 212.
[5] Fang Si Sun, Die Entwicklung der chinesischen Kolonisation in Südasien (Nan-yang) nach chinesischen Quellen, Jena 1931, 60f.
[6] Zheng Wang, Never Forget National Humiliation. Historical Memory in Chinese Politics and Foreign Relations, New York 2012, 225.
Abbildungen
[Abb.1] Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_134-B2403,_Tsingtau,_Tai_tsching_kung.jpg (Letzter Zugriff 15.4.2020). Urheber: Unbekannt. Standort: Bundesarchiv, Bild 134-B2403. Lizenz: CC-BY-SA 3.0.
[Abb.2] Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schantung_Kiautschou.jpg?uselang=de (Letzter Zugriff: 13.02.2020). Urheber: Unbekannt, Upload: Immanuel Giel. Lizenz: Public Domain (CC0 1.0 Universell).
[Abb.3] Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:German_train_station_1898.JPG (Letzter Zugriff: 15.4.2020). Urheber: HEL Europe (2013). Lizenz: CC BY-SA 3.0.